Meyer, Winfried, Klatt. Hitler’s jüdischer Meisteragent gegen Stalin. Überlebenskunst in Holocaust und Geheimdienstkrieg. Metropol, Berlin 2015. 1287 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Die an die deutsche Abwehr gerichteten Meldungen „Max“ und „Moritz“ hielt der englische Secret Service noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs für eines der größten Rätsel. Die geheimen Spionagenachrichten des V-Mannes mit dem Decknamen „Klatt“ wurden ab Herbst 1941 aus Sofia, seit Herbst 1943 aus Budapest an das Amt Ausland/Abwehr gefunkt. Die „Max“-Meldungen betrafen die Sowjetunion, die unter dem Betreff „Moritz“ figurierenden Nachrichten andere Räume (Mittelmeer, Nordafrika, Mittlerer Osten). Als „Klatt“ arbeitete der im Sinne der Nürnberger Gesetze als „Volljude“ geltende Richard Kauder, ein ehemaliger Wiener Kaufmann und Immobilienmakler. Durch seine weitreichenden Tätigkeiten für die Abwehr gelang es ihm, seine Familienangehörigen, Mitarbeiter und Freunde vor Deportation und Verfolgung zu bewahren. Die deutsche Abwehr vertraute den angeblich von einem sowjetischen Agentennetz aus Russland gelieferten Informationen. Winfried Meyer ist in mehr als zehnjähriger Forschungsarbeit meisterhaft gelungen, die wechselvolle und geradezu einmalige Biografie Richard Kauders, die Geschichte des Luftmeldekopfes Südost und der Mitarbeiter Kauders bis in die Fülle der personellen und strukturellen Details zu enträtseln. Der Verfasser nimmt dabei auch die Gegenspieler im NS-Regime sowie die englischen, amerikanischen und russischen Nachrichtendienste in den Blick. Amerikanische, englische, deutsche und sogar russische Archive konnten zu diesem Zweck ausgewertet werden. So schälen sich zugleich nach dem multiperspektivischen Ansatz des Verfassers die „Strukturen einer Mythologie der Spionage“ heraus. Wer dieses überaus spannende, in den historischen Ergebnissen und ihrer Fundierung geradezu sensationelle Werk aus der Hand legt, wird es trotz der aus- und zuweilen abschweifenden Erzählung jedem Spionagethriller vorziehen. Die unnachahmliche Mischung der Geschichte von Täuschung und Gegentäuschung, Korruption, Verrat, List und Lüge, der zusammenfabulierten, geschickt kombinierten oder tatsächlich vor Ort ermittelten Nachrichten, diese in den zweifelhaften Milieus der Halbwelten, Tanzlokale, Bordelle, der wendigsten bis windigsten Händler mit Nachrichten, Falschmeldungen und Schmuggelwaren angesiedelten Aktionen im ständig bedrohten Überlebenskampf muss man gelesen haben, um sich ein annähernd „wahres“, zugleich verwirrend komplexes und in vielen Farben und Nuancen schillerndes Bild dieser „Kriegsgesellschaft“ im Untergrund zu verschaffen.

 

Richard Kauder wurde von der Abwehrstelle Wien rekrutiert. Seine Meldungen an die

deutsche Abwehr basierten auf Nachrichten seines wichtigsten Informanten, des Exilrussen Longin Ira. seit 1939 Mitglied der russischen, antisowjetischen Exilorganisation Anton Turkuls. Während die „Max“-Meldungen vom Luftwaffenführungsstab als ziemlich verlässlich angesehen wurden, wurden die „Moritz“-Meldungen als minderwertig betrachtet. Einer der heftigsten Widersacher Klatts war der Leiter der Meldestelle Bulgarien, Otto Wagner, der unter dem Decknamen „Dr Delius“ operierte. Vergeblich versuchte die Gegenspionage des britischen MI 5 die Quellen des entschlüsselten Funkverkehrs der Abwehr zu ermitteln. Experten der Gegenspionage hielten zeitweise den Agenten Klatt für einen von den Russen kontrollierten imaginären Spion oder Doppelagenten. Von der Canaris-Gruppe wurde Klatt zwar nicht mit „Deutschblütigen“ gleichgestellt, aber weiterhin geschützt. Als auf Hitlers Befehl Canaris Mitte 1943 alle jüdischen V-Leute entlassen musste, fungierte er gleichwohl, nun unter dem Decknahmen „Karmany“ über den ungarischen Armeegeheimdienst weiter. Wie dann Klatt im Dschungel der Geheimdienste nach dem Ende des Amtes Ausland/Abwehr überlebte, ist eine so komplexe Geschichte, dass sie hier auch nicht annähernd in einer Zusammenfassung oder auch nur Angabe der Protagonisten wiedergegeben werden kann.

 

Kauders Inhaftierung und Befreiung zum Kriegsende, seine Befragungen durch englische und amerikanische Geheimdienste, aber auch die Fahndungen und Entführungsversuche von „Max“ = Klatt = Richard Kauder“ durch sowjetische Agenten im Österreich der Nachkriegszeit gehören, wie nicht anders zu erwarten, dann zum Anschluss vieler Agenten, auch Richard Kauders, an das nicht minder dubiose Milieu der Nachrichtendienste in der frühen Bundesrepublik, in dem der ehemalige Meisterspion für die Amerikaner tätig, aber sowohl von der Organisation Gehlen wie vom CIC oberserviert wird. Man begreift, dass der Autor sich intensiv, wenn auch vergeblich um die Kommentare Stalins bemüht hat, welche der Diktator an den Rand des Berichts über „Max“ und seine Quellen nach dem Kriege geschrieben hat. Da die Suche erfolglos war, können sie für den NKWD nicht schmeichelhaft ausgefallen sein.

 

Dem Niedergang und dem Ende des Lebens Kauders im Jahre 1960 und der noch heute umstrittenen Geschichte seiner Arbeit im Zweiten Weltkrieg sind Kapitel gewidmet, die sich mit den Nachkriegsmythen bis in die umfangreiche Forschungsliteratur befassen. Winfried Meyers kritische und bisweilen geradezu vernichtende Würdigung bisheriger, teilweise als seriös geltender historischer oder populärhistorischer Darstellungen lässt den Schluss zu, dass manche seiner Vorgänger als historische Forscher weniger authentisch gearbeitet haben als Romanciers wie frühere Geheimdienstleute, etwa Somerset Maugham, John le Carré oder Graham Greene, letzter als Autor eines berühmten Romans, in dessen Mittelpunkt ein fiktives Agentennetz steht. Die Geschichte der Geheimdienste im Zweiten Weltkrieg kann in der Tat, wie der Verfasser mit Eva Horn anmerkt, als „Reflex von Fiktionalisierungen“ der Geheimnisse der Macht sichtbar gemacht werden, sozusagen als etwas, das „in seinem Kern selbst fiktiv“ sei. Hier werde nicht auf Wahrheit, sondern auf Wirksamkeit gegen den Feind gezielt. „Entwürfe, Konstrukte, Visionen und Versionen, Wissen und Nichtwissen, Irrtümer und Täuschungsmanöver“ würden wiedergespiegelt. Das ist allerdings nur ein wichtiges Fazit, das der Verfasser am Ende seiner bewundernswerten und ohne Vorbild dastehenden Historiographie der militärischen und politischen Geheimnisse und Geheimdienste im Kontext eines bedeutenden Spions zieht.

 

Freiburg im Breisgau/Düsseldorf                                          Albrecht Götz von Olenhusen