Luth, Janine, Semantische Kämpfe im Recht. Eine rechtslinguistische Analyse zu Konflikten zwischen dem EGMR und nationalen Gerichten (= Schriften des Europäischen Zentrums für Sprachwissenschaften Band 1). Winter, Heidelberg 2015. 304 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Das Recht als menschliche Verhaltensbewertung wird wohl von seinen Anfängen an am einfachsten, schnellsten und wirksamsten durch die Sprache zum Ausdruck gebracht. Da sie selbst eine menschliche Errungenschaft ist, kann sie wie vieles andere Menschliche verhältnismäßig unbestimmt und unterschiedlich sein. Im Zweifel kann sich dabei „in semantischen Kämpfen“ am ehesten das Verständnis des letztlichen Entscheidungsträgers in der Wirklichkeit durchsetzen.

 

Mit einem Teilaspekt dieses Gegenstandsbereichs beschäftigt sich die vorliegende, von Ekkehard Felder betreute, im Rahmen der Heidelberger Gruppe der Rechtslinguistik geschaffene, von der Universität Heidelberg angenommene Dissertation der Verfasserin. Eines ihrer Hauptanliegen ist die Verbindung von Sprache und Recht. Ihr nähert sich die Bearbeiterin nach einer Einleitung über das erkenntnisleitende Interesse, die Fragestellung, den Gang der Untersuchung und die Auswahl des Untersuchungsfalls in neun Sachkapiteln. Sie betreffen das europäische Rechtssystem im Wandel (einschließlich des rechtslinguistischen Forschungsstands), die theoretischen Grundannahmen von Sprache, Welt und Wissen, Semantik und Pragmatik sowie Fachsprache und Gemeinsprache, Spuren der Verflechtung, Methoden, Diskursakteure und Normtexte, Sprachhandlungstypen, semantische Kämpfe am Beispiel des Kindeswohls, die Gutachten und Stellungnahmen im Beispielsfall und das Medienkorpus in der qualitativen Untersuchung.

 

Im Ergebnis sieht Janine Luth ansprechend gerade ein langes und konfliktreiches Verfahren wie den von ihr ausgewählten Fall Görgülü durch eine Vielzahl von Reformulierungen, sprachlichen Mustern aus dem Fachkontext und intertextuellen Übernahmen gekennzeichnet. Dabei zeigt sich insofern zuletzt eine wichtige Veränderung, als zwar im Ausgangsfall die nationalstaatliche Souveränität betont wurde, das deutsche Bundesverfassungsgericht aber in einer weiteren Entscheidung von einer Gleichrangigkeit der  Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ausgeht. Insofern bestätigt sich die Grundannahme der Verfasserin, dass in Sprache konkurrierende Gerichte auch aushandeln, wie sie sich zueinander positionieren, so dass die Entscheidungen gleichermaßen auch Seismograph für die Beziehung der Gerichte untereinander sein können, wobei im Übrigen nach Ansicht der Bearbeiterin, ihr erstes Angebot von linguistischer Seite an Hand zusätzlicher Fälle „in Zusammenarbeit mit den Experten aufseiten der Gutachter und Rechtsarbeiter weiter“ ausgebaut werden sollte, um „damit möglicherweise Unsicherheiten mit Blick auf die Hinzuziehung von Gutachten in Gerichtsentscheidungen einzudämmen“.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler