Lubini, Julian, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern der SBZ/DDR 1945-1952 (= Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts 82). Mohr (Siebeck), Tübingen 2015. XVII, 319 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs teilten die alliierten Siegermächte das gefährliche, in den ersten beiden weltweiten Kriegen der Menschheit besiegte Deutsche Reich in Besatzungszonen auf, die sich trotz verbaler Bekundungen von Wiedervereinigung in wenigen Jahren auf Grund verschiedener politischer Zielsetzungen zu zwei unterschiedlichen Staaten entwickelten. Da der an die Sowjetunion gefallene, sich selbst als friedliebend bezeichnende Staat sich nach eigener Bekundung vor den Aggressionen des Westens schützen musste, versuchte er vielfältige Wege zur Verwirklichung seiner behaupteten Ideale. Dazu zählte im Kern auch die Ersetzung des nach marxistischer Lehre nur den ideologischen Überbau über die wirtschaftlichen Verhältnisse bildenden Rechtes durch eine angeblich menschennähere sozialistische Politik.

 

Einen Teilbereich dieser Thematik behandelt der 1980 geborene, in der Rechtswissenschaft ausgebildete, 2008 in den Justizdienst eingetretene Verfasser in seiner von Michael Stolleis betreuten, im Sommersemester 2013 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main angenommenen, auf breiter archivalischer Grundlage beruhenden überzeugenden Dissertation. Sie gliedert sich außer in eine Einleitung über Forschungsstand, Untersuchungsgegenstand und Quellen in sechs Kapitel. Sie betreffen den Entwicklungsstand der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei Kriegsende, Haltungen und Entscheidungen zur Zukunft der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Reorganisation und Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Ländern der sowjetischen Besatzungszone ab 1947, die anderen öffentlichrechtlichen Gerichtsbarkeiten, den Stand nach der Neuordnung der Verwaltungsstrukturen im Juli 1952 sowie Hintergründe und Motive der Nichteinrichtung, Einrichtung und Abschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

 

Der Verfasser geht dabei davon aus, dass nach der im 19. Jahrhundert zunächst in Einzelstaaten des Deutschen Bundes erfolgten Einrichtung von Verwaltungsgerichten anders als im zunächst von den Vereinigten Staaten von Amerika besetzten Thüringen mit seiner eigenartigen politischen Nachkriegslandschaft nach dem 8. Mai 1945 in Sachsen an eine zügige Wiederaufnahme der Verwaltungsrechtsprechung kaum zu denken war und in den erst neu gebildeten Ländern und Provinzen Brandenburg, Mecklenburg(-Vorpommern) und Sachsen(-Anhalt), die keine eigene verwaltungsgerichtliche Tradition aufzuweisen hatten, noch weniger. Deswegen fragt er sich, warum – vom Sonderfall Thüringen abgesehen – im Übrigen bei für alle Länder einheitlichen und verbindlichen rechtlichen Vorgaben in zwei Ländern ab 1947 eine einigermaßen funktionierende Verwaltungsgerichtsbarkeit, in einem dritten Land erst ab 1950 und in einem weiteren wie auch im Ostteil Berlins gar nicht bestand? Mit seiner gelungenen Antwort schließt er eine wichtige Forschungslücke.

 

Gegenstand der Untersuchung sind dabei jeweils die Teilbereiche Normgefüge, Rechtsstab und Rechtspraxis. Kritisch soll das Handeln aller Beteiligten an ihren eigenen Maßstäben und an den Herausforderungen der Zeit gemessen werden, wobei eine vollständige Aufklärung wegen der Häufigkeit informeller mündlicher, nie aktenkundig gewordener Absprachen verständlicherweise nicht zu gewinnen war. Das Hauptinteresse gilt der Entstehung der Verwaltungsgerichte ab 1945 im Rahmen eines komplizierten Kräftegefüges und eines oft wenig durchsichtigen Beziehungsgeflechts, wobei schwerpunktmäßig Sachsen als das mit mehr als fünfeinhalb Einwohnern bedeutendstes Land im Osten mit verhältnismäßig umfangreichen Quellenmaterial.in den Mittelpunkt gestellt wird.

 

Dort war trotz des Artikels 49 I der Verfassungsurkunde vom 4. September 1831 erst 1901 auf der Grundlage eines Gesetzes über  die Verwaltungsrechtspflege vom 19. Juli 1900 (Inkrafttreten zum 1. Januar 1901) ein Oberverwaltungsgericht geschaffen worden, das im März 1901 die ersten Urteile fällen konnte. Nach dessen tatsächlichem Untergang durch Luftangriffe auf Dresden vom 13. bis 15. Februar 1945, demgegenüber die Landesregierung noch im September 1947 zwecks Einnahme von Gerichtskosten seine Existenz vorgab, wurde durch Gesetz vom 30. Oktober 1947 ein Landesverwaltungsgericht eingerichtet. Bis zur Mitte des Jahres 1952 war es tatsächlich rechtsprechend tätig, obwohl seiner subjektiven Rechtsschutzfunktion rechtlich und tatsächlich nur eine geringe Bedeutung zukam, so dass es kaum in Erscheinung trat und auch unter den Juristen im Land nur wenig bekannt war.

 

Auf dem Gebiet der benachbarten Provinz Sachsen Preußens hatten vier unterschiedliche Systeme des Verwaltungsrechtsschutzes bestanden. In Anhalt war 1888 mit einem Oberverwaltungsgericht, einem Landesverwaltungsgericht und Kreisverwaltungsgerichten ein Dreiinstanzenzug eingerichtet worden, der sich stark an das die Gebiete des Herzogtums fast vollständig einschließende Preußen angelehnt hatte. Das neue Provinzialpräsidium kam am 24. Mai 1946 zu dem Schluss, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit noch nicht eingerichtet werden könne. Insgesamt kamen schließlich die etwas günstigeren politischen Ausgangsbedingungen in Sachsen-Anhalt der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht zugute, wobei mit der Zurückstellung des Vorhabens wegen der von zentraler Ebene aus in Gang gesetzten Entwicklung die Chance auf einen effektiven Rechtsschutz vertan war.

 

Im Gebiet des zum 1. Mai 1920 gegründeten Thüringen hatten die Herzogtümer Sachsen-Meiningen und Sachsen-Coburg und Gotha sowie die Herzogtümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt. 1910 schufen  das Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, das Herzogtum Sachsen-Altenburg und die Fürstentümer Schwarzburg-Rudolstadt und Schwarzburg-Sondershausen ein gemeinsames, 1912 seine Tätigkeit in Jena aufnehmendes Oberverwaltungsgericht, dem sich auch Sachsen-Coburg und Gotha und nach Kündigung eines Staatsvertrags mit Sachsen vom 22. Januar 1911 der Freistaat Reuß unterstellten. Seine letzten Klageeingänge und Entscheidungen datierten vom Jahre 1941, doch konnte das Oberverwaltungsgericht am 22. Juni 1946 anknüpfend an den vornationalsozialistischen Entwicklungsstand und mit vergrößertem Jurisdiktionsbereich seine frühere Rechtsprechungstätigkeit wiederaufnehmen.

 

In Berlin und Brandenburg war die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch das 1875 errichtete Oberverwaltungsgericht Preußen als Abschluss eines Dreiinstanzenzugs ausgeübt worden, das 1921 in das Reichsverwaltungsgericht eingegliedert wurde (aufgehoben am 31. Oktober 1946). Ob ein zur Erledigung der bei dem Bezirksverwaltungsgericht Potsdam anhängigen Streitsachen vorgesehenes Verwaltungsgericht der Provinzialverwaltung jemals tätig wurde, konnte der Verfasser nicht aufklären. Im sowjetischen Sektor Berlins wurde keine Verwaltungsrechtspflege ausgeübt.

 

In Mecklenburg-Schwerin war mit Gesetz vom 3. März 1922, in Mecklenburg-Strelitz mit Gesetz vom 17. August 1922 eine Verwaltungsgerichtsbarkeit eingerichtet worden. Nach der Vereinigung beider Länder durch Reichsgesetz vom 15. Dezember 1933 galt das mecklenburgisch-schwerinische Verwaltungsgerichtsgesetz auch für den Landesteil Mecklenburg-Strelitz. Während die zugehörigen Richter noch bis Juli 1945 ihr Gehalt behielten, wurde das Gericht nach dem Wechsel der Besatzungsmacht von Großbritannien zur Sowjetunion aufgelöst und 1947 die Wedererrichtung des Landesverwaltungsgerichts bei dennoch bestehenden Unklarheiten der Verwaltungsrechtslage bis auf weiteres zurückgestellt.

 

Auf dieser verwickelten Grundlage behandelt der Verfasser die Positionen und Vorentscheidungen von KPD/SED, das Gesetz Nr. 36 des Alliierten Kontrollrats, die dogmatischen Prämissen der KPD/SED, die Verfassungsentwürfe für Republik und Länder, die Gesetzentwürfe der SED-Abteilung Justiz und die Umsetzung des Kontrollratsgesetzes Nr. 36 in der sowjetischen Besatzungszone. Dem schließt er die Entwicklung in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Brandenburg, Berlin und Mecklenburg ab 1947 an und untersucht als andere Institute des Verwaltungsrechtsschutzes die Petition an die Volksvertretung, die Beschwerde an das übergeordnete Organ, das Einspruchsverfahren und die Möglichkeit der Inzidentkontrolle durch die ordentlichen Gerichte. Als andere öffentlichrechtliche Gerichtsbarkeiten stellt er die Finanzgerichtsbarkeit und die Arbeitsgerichtsbarkeit/Sozialgerichtsbarkeit dar und erörtert den Ausschluss des richterlichen Normprüfungsrechts in den Verfassungen.

 

Kapitel 5 ist der Auflösung der Länder und dem Ende der Verwaltungsgerichte einschließlich ihrer Abwicklung gewidmet Dabei geht der Verfasser vertieft auch das Kontrollratsgesetz Nr. 36 und Art. 138 der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik ein. Auch die Beziehungen zwischen Verwaltungsgerichtsbarkeit und Verwaltungsrechtswissenschaft werden sorgfältig überprüft.

 

Bei den Hintergründen und Gründen der Nichteinrichtung, Einrichtung und Abschaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit beginnt er mit der Perspektive der Kommunisten, für die er die Frage nach Lehren aus der Geschichte mit rechtstatsächlichen Überlegungen verknüpft. Die deutsche Blockpolitik stellt er der sowjetischen Deutschlandpolitik gegenüber. Im Ergebnis erkennt er überzeugend, dass die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit in der sowjetischen Besatzungszone gezielt zurückgedrängt wurde, um das politische System möglichst ungestört errichten zu können, und in der Deutschen Demokratischen Republik ausgeschaltet blieb, um die Starrheit des politischen Systems erhalten zu können, obwohl die Sowjetunion um 1950 ihrem Bestand einen hohen Stellenwert auf einem vergeblich gesuchten Weg zu einem (sozialistischen) geeinten Deutschland beigemessen hatte, weshalb er in seiner vorzüglichen, formal vielleicht unnötig oft Abkürzungen einbeziehenden Leistung den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik letztlich auch auf die nur ungenügend gewährte Kontrolle der Staatsgewalt zu Lasten des Individualrechtsschutzes zurückführt.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler