Liebs, Detlef, Das Recht der Römer und die Christen. Gesammelte Aufsätze in überarbeiteter Fassung. Mohr Siebeck, Tübingen 2015. XII, 281 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Der Band umfasst dreizehn Aufsätze, die, wie dem knappen Vorwort zu entnehmen ist (S. V), zwischen 1983 und 2011 entstanden sind, jedoch zum Teil gründlich überarbeitet wurden. Denn, wie der Autor im Vorwort mitteilt: „Erfreulicherweise ruht die wissenschaftliche Gemeinschaft ebenso wenig wie meine Neugier noch nicht nachlässt.“ Die Arbeiten lassen sich in zwei Gruppen einteilen. Zunächst geht es (in den Aufsätzen Nr. 1 – 4) um Christen als Opfer strafrechtlicher Verfolgung durch den römischen Staat; sodann (Nr. 5 – 13) um die Entwicklung des römischen Rechts, insbesondere des Strafrechts, nach der konstantinischen Wende.
Der erste Aufsatz trägt den Titel „Der Prozess Jesu“ (S. 1ff.). Der Autor schildert das Geschehen von der Festnahme Jesu durch die Tempelpolizei bis zu seinem Tod am Kreuz. Danach geht er auf die unterschiedliche Glaubwürdigkeit der Quellen, insbesondere der vier Evangelien, ein. Von besonderem Interesse sind die Darlegungen über die Rolle der Juden. Der Autor stellt fest, entgegen neueren Forschungen jüdischer Gelehrter sei eine Mitwirkung von Juden am Tod Jesu kaum zu bestreiten (S. 12). Maßgeblich beteiligt gewesen seien Vertreter der jüdischen Oberschicht, die mit der römischen Besatzungsmacht kollaboriert hätten. Ausführlich werden die Verhandlung vor Pilatus, das Urteil und seine Vollstreckung sowie mögliche Motive des Pilatus dargelegt.
Im Aufsatz „Die Neronische Christenverfolgung“ (S. 20ff.) wird dargestellt, wie Kaiser Nero nach einer (vielleicht von ihm selbst veranlassten) gewaltigen Feuersbrunst in Rom (64 nach Christus) zahlreiche Christen strafrechtlich zur Verantwortung zog (wobei die Zugehörigkeit zur Christengemeinschaft ausreichte) und mit grausamen Strafen belegte, was in manchen Kreisen der Römer zu Mitleid mit den Christen führte. Als Hauptquelle nennt der Autor den römischen Senator und Historiker Tacitus (Annalen, um 118 nach Christus).
„Plinius mildert die Verfolgungen“ (S. 32ff.) bezieht sich auf einen Briefwechsel zwischen dem Prokonsul Plinius und Kaiser Trajan, der Plinius wohl im Jahre 109 nach Christus in die Provinz Pontus et Bithynia (an der Südküste des Schwarzen Meeres) entsandt hatte, um dort Ordnung zu schaffen, wozu auch gehörte, gegen die Ausbreitung des Christentums einzuschreiten. Plinius sprach sich für eine Milderung der Strafpraxis gegen Christen aus. So wollte er zum Beispiel Reuige begnadigen. Trajan bekräftigte seinen Prokonsul darin und ordnete zudem an, dass nicht mehr nach Christen gefahndet werden durfte. Auch sollten anonyme Anzeigen nicht mehr beachtet werden.
In „Märtyrer nutzen das römische Prozessrecht zur Mission“ (S. 47ff.) wird an einer Vielzahl von Beispielen deutlich gemacht, dass Christen, die sich strafrechtlich verantworten mussten, durch ihre standhafte Haltung Richter, Gefängnis- und Exekutionspersonal sowie die Öffentlichkeit stark beeindruckten und teilweise sogar dazu brachten, zum Christentum überzutreten. Die Verfolgung der Christen führte nicht nur zu Märtyrern, sondern auch zu einer Stärkung der neuen Religion.
Die öffentliche Hinwendung Kaiser Konstantins zum Christentum (312 nach Christus) lässt erwarten, dass die Strafpraxis, insbesondere auch die Grausamkeit der verhängten Strafen, dem Gebot der Nächstenliebe entsprechend gemildert wurde. „Die konstantinische Wende und das Recht“ (S. 75ff.) zeigt, dass dies nicht der Fall war. Es kam zu einer Ausweitung und Verschärfung der Kriminalstrafen und einer weiteren Zurücksetzung der Frauen. Milderungen sind zu verzeichnen, was die Behandlung von Gefangenen betrifft. Die Sklaverei wurde zwar nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wohl aber wurde die Lage der Sklaven verbessert.
„Die Donatistenprozesse“ (S. 98ff.) sind vor dem Hintergrund einer Spaltung der Kirche in Africa zu verstehen. Die Donatisten, benannt nach Donat, einem karthagischen Gegenbischof, warfen Bischöfen und anderen Geistlichen vor, während der Zeit der Christenverfolgung die heiligen Bücher an die Verfolger ausgeliefert zu haben. Die Donatisten bestritten die Gültigkeit einer Bischofsernennung (es ging um die Ernennung Cäcilians zum Bischof von Karthago). Ein von ihnen selbst angestrengter Prozess führte dazu, dass donatistische Bischöfe ins Exil geschickt wurden. Konstantin hatte in den Prozess eingegriffen.
„Unverhohlene Brutalität in den Gesetzen der ersten christlichen Kaiser“ (S. 108ff.) ist der Titel des Aufsatzes, der drastisch deutlich macht, dass die offizielle Anerkennung des Christentums mit einer Zunahme brutaler Strafen bei bestimmten Delikten, zum Beispiel bei Menschenraub, Verwandtenmord und Mädchenentführung, verbunden war.
„Aufruhr in Rom nach Papstwahlen. Die Dokumentation des Ursinianischen und des Eulalianischen Schismas in römischen Archiven“ (S. 146ff.) ist der Titel eines Aufsatzes, in dem der Autor an zwei Beispielen darstellt, dass es nach dem Tod eines Papstes häufig zur Wahl zweier Päpste kam, was jeweils mit blutigen Unruhen verbunden war. Gut dokumentiert sind zwei Schismata, das Ursinianische vom Jahre 366 nach Christus (der Gegner des Ursinus, Damasus, konnte sich durchsetzen), und das Eulalianische von 418 nach Christus (der Gegner des Eulalius, Bonifatius, gewann). Beide Schismata wurden von der kaiserlichen Regierung entschieden.
„Landraub und Gerechtigkeit im religiös gespaltenen Rom. Symmachus, Relatio 28“ (S. 166ff.) zeigt am Beispiel eines einzelnen Prozesses (384 oder 385 nach Christus), dass hochgestellte Personen in zahlreichen Fällen fremde Grundstücke gewaltsam an sich brachten und die Opfer, meist kleine Leute, von der Justiz nicht geschützt wurden. In dem vom Autor dargestellten Fall brachte ein Christ einen Heiden um sein Grundstück.
„Der erste Ketzerprozess“ (S. 186ff.) war gegen das Haupt einer aus Ägypten kommenden, asketischen Bewegung, Priszillian, gerichtet, die sich in den 370er Jahren nach Christus im westlichen Teil Iberiens ausgebreitet hatte. Es kam zu einem Prozess gegen Priszillian und seine Anhänger, in dem dieser der schwarzen Magie und der Abweichung von der kirchlichen Lehre bezichtigt und schließlich hingerichtet wurde.
„Augustin und Paulinus von Nola im römischen Rechtsbetrieb“ (S. 201ff.) befasst sich in der Hauptsache mit Augustin (354 bis 430 nach Christus), der seine Wertschätzung der Juristen und des römischen Rechts mehrfach zum Ausdruck brachte, ja sogar Jesus als göttlichen Rechtsberater bezeichnete. Als Bischof von Hippo Regius (seit 395) war Augustin als Richter tätig. Auffallend ist, dass er die Todesstrafe zwar nicht prinzipiell ablehnte, sich aber, wenn sie konkret drohte, dagegen aussprach. Paulinus von Nola (zwischen 353 und 355 geboren, gestorben 431 nach Christus), ein reicher und gebildeter Senator, der zum christlichen Asketen wurde, wird als Verfasser zweier Briefe vorgestellt, in denen er Rechtsbeistand leistete.
In „Römische Jurisprudenz und Christentum“ (S. 219ff.) schildert der Autor die Einstellung der vorkonstantinischen römischen Juristen zum Christentum, den Übertritt von Juristen zum Christentum (zum Beispiel von Tertullian und Ambrosius) sowie die Haltung juristischer Laien unter den Christen zur römischen Jurisprudenz. Abschließend wird die Einbeziehung des Kirchenrechts in das staatliche Rechtssystem dargestellt, wie sie in drei Kodifikationen von Kaisergesetzen erfolgt ist, von denen hier nur die beiden bekanntesten, der Codex Theodosianus und der Codex Justinianus, genannt seien.
Im letzten Aufsatz : „Römischrechtliche Glut aus dem 8. Jh. für ein Bischofsgericht in Burgund“ (S. 256ff.) behandelt der Autor einen römischrechtlichen Leitfaden für die an einem Bischofsgericht tätigen Richter, die durch eine Pariser Handschrift überlieferte Epitome Parisina, die wahrscheinlich in Burgund, vielleicht in Lyon, im frühen 8. Jahrhundert entstand. Ihr Verfasser heißt Valbertus (Walbert) levita.
Abgeschlossen wird der Band durch drei nützliche Register (S. 275ff.) - der „Personen“, der „Orte, Provinzen“ und der „Begriffe, Gruppen, Sachen“. Dem Autor ist eine lebendige Darstellung von Ereignissen und Rechtsdokumenten aus fernen Zeiten gelungen, wozu nicht unwesentlich beiträgt, dass er immer wieder auf (zur Zeit der Abfassung der Aufsätze) aktuelle Missstände in der (deutschen und der US-amerikanischen) Justiz hinweist und dadurch eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt, die dem Leser die Vergangenheit näher bringt, aber auch die Gegenwart in einem neuen Licht erscheinen lässt. Der Autor hat mit dem Band einen kleinen, aber sehr eindrucksvollen Ausschnitt aus seinem umfangreichen Lebenswerk vorgelegt. Dafür sei ihm gedankt.
Heidelberg Hans-Michael Empell