Liebrecht, Johannes, Brunners Wissenschaft. Heinrich Brunner (1840-1915) im Spiegel seiner Rechtsgeschichte (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 288). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014. IX, 363 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Im Weinberg der Rechtsgeschichte wirken vielleicht schon seit den Römern, jedenfalls seit der vor 500 Jahren veröffentlichten Rechtsgeschichte Aymar du Rivails viele fleißige Weingärtner auf den unterschiedlichsten Rebstücken. Heinrich Brunner ist einer der bekanntesten unter ihnen. Gleichwohl ist es hundert Jahre her, dass er eigener Gegenstand gelehrter Betrachtung wurde, wie dies in dem von Ulrich Stutz für die germanistische Abteilung der Zeitschrift für Rechtsgeschichte verfassten Nachruf der Fall war.

 

Die vorliegende Untersuchung, die auf dem Umschlag Brunner allein wohl inmitten Brandenburg-Berliner Föhren zeigt, ist das im Jahre 2013 der juristischen Fakultät der Universität Regensburg als Dissertation vorgelegte Ergebnis der Anregung Reinhard Zimmermanns, das Interesse an Heinrich Brunner zu einem Buch werden zu lassen. Die ohne den Betreuer nie begonnene Untersuchung des seit 1993 in Rechtswissenschaft und Philosophie ausgebildeten, seit 2007 bzw. 2013 (als wissenschaftlicher Referent) am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg tätigen Autors führt nach der Danksagung ihren Ursprung sogar noch deutlich weiter zurück, indem sie die Freiburger Lehrer Ernst-Wolfgang Böckenförde und Karl Kroeschell als Urgrund des rechtsgeschichtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Interesses des Verfassers nennen. Dementsprechend findet sich auch eine Studie über das gute alte Recht in der rechtshistorischen Kritik bereits in dem von Karl Kroeschell 1996 herausgegebenen Band über Funktion und Form in Bezug auf Quellen- und Methodenprobleme der mittelalterlichen Rechtsgeschichte.

 

Gegliedert ist die dementsprechend in manchen Jahren gereifte, überzeugende Arbeit in sieben chronologisch gereihte Kapitel. Sie beginnen mit der einzigen überlieferten autobiographischen, bereits nach etwa zwanzig Sätzen endenden Skizze Brunners, der am 21. Juni 1840 in Wels in Oberösterreich als zweiter Sohn des k. k. ob der ennsischen Regierungskonzipisten W. Brunner geboren wurde. Die Familie war deutsch-böhmischer Herkunft und lebte in einem betont deutsch-österreichischen Milieu. Nach der Versetzung des Vaters nach Linz ging Brunner dort in die Schule und das Gymnasium und konnte nach dem Tode des Vaters (1856) das Studium in Wien nur auf Grund eines staatlichen Stipendiums aufnehmen.

 

Vom ersten Semester an war er fest entschlossen, seine Lebensarbeit der Geschichte des deutschen Rechtes zu widmen, und schrieb sich deswegen in Wien 1858 für Rechtswissenschaft, Geschichte und historische Hilfswissenschaften ein. Beeindruckt wurde er vor allem von Joseph Unger, Heinrich Siegel und Theodor Sickel. Seit 1861 nahm er an dem vierten Studiengang des 1854 gegründeten Instituts für österreichische Geschichtsforschung Teil, dessen Prüfungen er im Juli 1863 mit sehr gutem Erfolg bestand.

 

Nach einer journalistischen Zwischentätigkeit und Promotion zum Doktor beider Rechte im April 1864, wechselte er nach Göttingen zu Georg Waitz, ohne eigene Nähe zu diesem Lehrer zu gewinnen, und im zweiten Halbjahr des betreffenden Stipendiums nach Berlin (Ranke, Droysen, Gneist, Homeyer, Freundschaft mit Alfred Boretius und Wilhelm Scherer). Im April 1865 wurde er auf Grund zweier Arbeiten über die herzogliche Gerichtsgewalt im oberösterreichischen Mittelalter und über Zeugen- und Inquisitionsbeweis der Karolingerzeit habilitiert. 1866 wurde er Supplent (dann außerordentlicher Professor, 1868 ordentlicher Professor) in dem galizischen, deutlich jüdisch geprägten Lemberg, in dem er sich als kultivierter Fremder unter Banausen empfand (nichts wie Hader und Zank und die Polonisierung im Hintergrund).

 

Kurz vor Einstellung des deutschsprachigen Unterrichts in Lemberg wurde er im Oktober 1870 an die noch ungeteilte Universität Prag berufen, aber von der Wiener Ministerialbürokratie enttäuschend behandelt, so dass er 1872 nach Straßburg und 1873 als Nachfolger Gustav Homeyers nach Berlin wechselte. Hier unterrichtete er bis wenige Wochen vor seinem Tod am 11. August 1915 mit großem Erfolg deutsches Privatrecht, Rechtsgeschichte, Verfassungsgeschichte, Handelsrecht, Wechselrecht und Sachenrecht und herrschte nach den Worten des Verfassers spätestens seit den 1880er Jahren (kaiserähnlich) über seine Wissenschaft.

 

Nach dem zweiten Kapitel versteht Brunner das fränkische Recht als Erbschaft Europas und behandelt beeindruckend den Inquisitionsbeweis, Wort und Form, die Ursprünge der Jury, die Rechtsgeschichte der Urkunde, die Frühgeschichte des Strafrechts und die Entstehung des Lehnswesens. Sein Wagnis einer Gesamtdarstellung der deutschen Rechtsgeschichte bleibt allerdings ein Torso. Als zu hoch erwiesen sich die selbst gesetzten Ansprüche.

 

Unter dem Gesichtspunkt von Idealen einer zeitgemäßen Rechtsgeschichte geht der Verfasser in diesem Rahmen überzeugend auf Quellen, Editionen, Urkunden, Entwicklung, Rückschluss, Vergleichung, Sprachgeschichte und Rechtswissenschaft ein. An allen Stellen sind die Forderungen Brunners einleuchtend. Viele Ideale lassen sich aber von einem Einzigen nicht immer gleichzeitig verwirklichen.

 

Das fünfte Kapitel sieht Brunner am Stellwerk seiner Wissenschaft. Beeindruckend ist dabei aber in erster Linie die Fähigkeit zur Delegation von Aufgaben. Beispielhaft kann der Verfasser hierfür die Leges in den Monumenta Germaniae Historica oder das Deutsche Rechtswörterbuch anführen. Eine Führungsfigur kann und will nicht gleichzeitig die im Weingarten auch nötige Kärrnerarbeit ausführen.

 

Das siebte Kapitel sieht Brunner als internationale Leitfigur der Rechtsgeschichtsschreibung. Er ist Regent in einem Gelehrtenreich und wissenschaftsgeschichtliche Statue. Germanistik ist deutsche Wissenschaft.

 

Der Ausklang fällt zeitlich mit dem Niedergang der Monarchie im ersten Weltkrieg zusammen. Bereits seit seinem 60. Lebensjahr empfand Brunner sich als gealtert und zunehmend schwächer. Als er in Bad Kissingen an Leberkrebs starb, wurde sein wissenschaftliches Erbe von einem fruchtbringenden Kapital zu einer belastenden Hypothek, weil niemand den heldenhaft von ihm begonnenen Bau zu weiterem Glanz führen konnte.

 

Innsbruck                                                                              Gerhard Köbler