Lee, Chun-Tao, Jherings Eigentumsbegriff. Seine römischrechtlichen Grundlagen und sein Einfluss auf das BGB (= Berliner Schriften zur Rechtsgeschichte 5). Nomos, Baden-Baden 2015. 231 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Rudolf von Jhering (1818-1892) war nach Ansicht des Verfassers der bedeutendste Jurist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in jedem Falle einer der führenden deutschen Juristen des 19. Jahrhunderts, der nach dem Rechtsstudium in Heidelberg, Göttingen, München und Berlin und der Habilitation bei Gustav Homeyer in Berlin 1843 nach Basel und später nach Rostock, Kiel, Gießen, Wien sowie zuletzt 1872 nach Göttingen berufen wurde. Seine wichtigsten Schriften über den Geist des römischen Rechtes auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung und über den Zweck des Rechtes blieben allerdings unvollendet. Auch zu einer in die Zukunft weisenden Methodenlehre gelangte er ebenso wenig wie zu einer zusammenfassenden dogmatischen Darstellung eines Rechtsgebiets.

 

Mit einem Teilaspekt seiner gleichwohl beeindruckenden Leistung beschäftigt sich die von Cosima Möller betreute und in dem Wintersemester 2013/2014 von dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin angenommene Dissertation des 1975 geborenen, in Taipeh ausgebildeten und seit der Promotion am Department of Law der National Cheng Kung University in Tainan in Taiwan tätigen Verfassers. Sie geht von Okko Behrends‘ Aufsatz über Jherings Evolutionstheorie des Rechts zwischen historischer Rechtsschule und Moderne aus und gliedert sich nach einer Einleitung über Fragestellung, Hauptthesen Jherings über Eigentumsbegriff, Nachbarschaftsverhältnisse und Enteignung, die Zusammenhänge mit dem Geist und dem Zweck sowie den Gang der Darstellung in vier Sachkapitel. Sie betreffen den Eigentumsbegriff mit dem Interesse als Grenze der Eigentümerbefugnisse, die heuristische Funktion des Interessendenkens in Konfliktfällen zwischen Nachbarn, das öffentliche Interesse als Rechtfertigungsgrund für die Enteignung und den historischen Hintergrund der Eigentumslehre und ihren Einfluss auf das Bürgerliche Gesetzbuch des Deutschen Reiches von 1900.

 

Im ansprechenden Ergebnis zeigt der Verfasser eindringlich, dass Jhering durch den usus-Begriff und über den Gedanken der utilitas seine Vorstellung von den Interessen mit den römischen Quellen verband. Zwar ging Jhering von dem klassisch-individualistischen Eigentum aus, bettete aber zwecks Bewältigung der Fragen seiner eigenen Zeit den vorklassischen usus-Begriff in den Eigentumsbegriff ein und beschränkte dadurch den Anwendungsbereich der Formbegriffe, so dass das Interesse des Einzelnen bei Bedarf dem Interesse der Allgemeinheit weichen musste. In der Folge wirkte sich dieses Interessendenken Jherings nach den überzeugenden Ausführungen des Verfassers an verschiedenen Stellen erheblich auf die Arbeiten an dem Bürgerlichen Gesetzbuch aus, auch wenn eine endgültige Lösung der Eigentumsproblematik und eine ein für allemal geltende Festlegung der Grenzen des Eigentums  nicht gelang und auch nicht möglich erscheint.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler