Laage, Clea, Gesetzliches Unrecht. Die Bedeutung des Begriffs für die Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Die Rezeption der Radbruchschen Formel in Rechtsprechung und Rechtslehre nach 1945 (= Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft 2). Lang, Frankfurt am Main 2014. 161 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um keine Neuerscheinung sui generis, sondern um die vollständige Publikation der 1988 an der Universität Hannover im Fachbereich Sozialwissenschaften maschinschriftlich eingereichten Diplomarbeit der Verfasserin. Sie gelangte in Auszügen bereits 1989 als Aufsatz in Joachim Perels‘ „Kritische(r) Justiz“ in den Druck und wird vom Genannten für so bedeutend erachtet, dass er den Volltext nun als zweiten Band seiner 2013 gestarteten Reihe der „Beiträge zur Aufarbeitung der NS-Herrschaft“ aufgenommen hat. Laages Fragestellung sei nämlich, so Perels, „in der späteren Forschung nicht behandelt“ worden; somit hätten „die analytische Qualität der Arbeit und die Verarbeitung einer großen Zahl von Gerichtsentscheidungen und juristischer Aufsätze des Zeitraums von 1945 bis zu Beginn der 1960er Jahre für die gegenwärtige wissenschaftliche Forschung zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland besondere Bedeutung“ (S. 6f.). Clea Laage, die ein Doppelstudium der Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaften absolviert hat, wirkt mittlerweile beruflich in der Arbeitsgruppe Rechtsvereinfachung der Niedersächsischen Staatskanzlei.
Ihre Studie beschäftigt sich mit dem Kardinalproblem, mit dem sich die Nachkriegsjustiz bei der strafrechtlichen Ahndung der von der nationalsozialistischen Staatsführung gewollten und gedeckten Kapitalverbrechen konfrontiert sah, nämlich nach welchen Maßstäben dieses seinerzeit durch positive Normen legitimierte, sogenannte „Systemunrecht“ einer der Schwere und dem Ausmaß dieser Straftaten gerecht werdenden Würdigung mit rechtsstaatlichen Mitteln unterzogen werden könne. Die positivistische Extremposition, wonach „was damals Recht war, heute nicht Unrecht sein könne“, ging dabei mit der den Rechtsfrieden bedrohenden Vision einher, dass die Massenverbrechen der NS-Diktatur womöglich ungesühnt bleiben könnten. Einen Ausweg aus dem Dilemma entwickelte Gustav Radbruch (1878 – 1949), Heidelberger Rechtsprofessor und während der Weimarer Republik Reichsjustizminister (1921 und 1923), mit seiner materiellen Geltungslehre, die, meist zugespitzt auf die sogenannte Unerträglichkeitsthese, unter dem Begriff der Radbruchschen Formel allgemeine Bekanntheit erlangen sollte. Sein bahnbrechender, 1946 in der Süddeutschen Juristen-Zeitung veröffentlichter Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ (S. 105ff.) bringt diese naturrechtlich inspirierten Überlegungen erstmalig auf den Punkt.
Nach Radbruch sei die Gerechtigkeit über die Rechtssicherheit zu stellen; Rechtsnormen, die in einem unerträglichen Ausmaß ungerecht seien, seien gesetzliches Unrecht ohne Geltung und könnten daher auch nicht zur Rechtfertigung rechtswidrigen Handelns herangezogen werden. Gesetzliches Unrecht liege insbesondere dann vor, wenn Gesetze gegen das zum Rechtsbegriff erhobene Prinzip der Humanität verstießen, also Menschen als Untermenschen behandelten, ihnen die Menschenrechte versagten oder sie zum Objekt staatlichen Handelns degradierten, etwa in Form gänzlich unangemessener und undifferenzierter Strafdrohungen. Clea Laage: „Mit der Entlegitimierungsfunktion und der Bestrafungsfunktion erweist sich die Kategorie des gesetzlichen Unrechts als Alternative zu der 1947/48 einsetzenden Restauration, deren Kernstück die Nicht-Ahndung von NS-Verbrechen war. Sie steht also im Spannungsfeld Neubeginn versus (Rechts-)Kontinuität, das die Entwicklung der Westzonen nach 1945 prägte, auf der Seite des politischen und rechtlichen Neuanfangs“ (S. 20). Zu ergänzen sei Radbruchs auf die Geltung einzelner Gesetze abzielende Theorie durch die klassischen zeitgenössischen Studien Ernst Fraenkels, Otto Kirchheimers und Franz Leopold Neumanns (alle drei waren aus rassischen Gründen gezwungen, Deutschland zu verlassen), welche die Rechtfertigung nationalsozialistischen Rechts aus dem Titel der Rechtssicherheit generell negieren, da dieses Recht (etwa durch die vermehrte Einführung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen sowie deren Interpretation im Sinne der NS-Ideologie) weder Rechtssicherheit geschaffen noch Gerechtigkeit intendiert habe. Was im Dritten Reich Recht genannt wurde, sei Neumann zufolge „ausschließlich eine Technik [gewesen], um den politischen Willen des Führers in Verfassungswirklichkeit zu transformieren“ (S. 15, Fußnote 12).
Das alliierte Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 könne „als positivierte Form des gesetzlichen Unrechts“ angesprochen werden, da es „unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit für strafbar erklärte und damit ebenfalls den NS-Staat delegitimierte und die Ahndung von NS-Verbrechen ermöglichte“ (S. 5). Auf der anderen Seite vermieden es die Alliierten aber, sämtliche legislativen Hoheitsakte zwischen 1933 und 1945 für nichtig zu erklären: „Letzteres wurde wegen der ‚unabsehbaren Folgen dieser Position für die Rechtssicherheit‘ als problematisch angesehen. Der von den Alliierten eingeschlagene Weg führte dazu, dass sich 1945 zwar die Staatsordnung änderte, die Rechtsordnung aber größtenteils bestehen blieb“ (S. 30). Das Interesse der Verfasserin zielt in der Folge auf die Untersuchung der Frage, welche Bedeutung die Kategorie des gesetzlichen Unrechts unter diesen Rahmenbedingungen in der Rechtsanwendung erlangen sollte und welche Umstände ihre allgemeine Durchsetzung verhinderten. Zu diesem Zweck zieht sie mehrere Fallgruppen heran: die NS-Amnestie (Fall des Erzberger-Mörders Tillessen), den Entzug jüdischen Vermögens, die Anstaltsmorde im Zuge der NS-„Euthanasie“ (deren strafrechtliche Ahndung Anika Burkhardt in ihrer hier jüngst besprochenen Tübinger Dissertation aus 2013 mittlerweile ausführlich erörtert hat), Anzeigeverbrechen und Justizverbrechen. Die Letztgenannten sind rechtsgeschichtlich von besonderem Interesse, weil in ihrem Zusammenhang die Frage der Rechtsbeugung durch die Anwendung gesetzlichen Unrechts anhand der Lehre und der Urteilspraxis kritisch reflektiert wird. In Summe zeigt sich, dass sich die Kategorie des gesetzlichen Unrechts zur Aufarbeitung der NS-Systemverbrechen als durchaus tauglich erwies, aber dennoch ab 1947/1948 zunehmend ins Hintertreffen geriet. Eine rühmliche Ausnahme bilde, wie Joachim Perels anmerkt, die „wenig bekannte Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone zwischen 1947 und 1951 […]. Dieser Gerichtshof orientierte sich […] an der Kategorie des gesetzlichen Unrechts und dem Kontrollratsgesetz Nr. 10. In vielen seiner Entscheidungen wurde deutlich, worin eine rechtsstaatlich bestimmte Negation des juristischen Systems des NS-Staats besteht. Im späteren Mainstream der Justiz wurde demgegenüber dem NS-Recht – vom Militärstrafrecht bis zu den Nürnberger Gesetzen – vielfach weiterhin Gültigkeit zugesprochen“ (S. 7). Auf das Versäumnis der Schaffung analoger, an das Kontrollratsgesetz Nr. 10 angelehnter Normen durch den deutschen Gesetzgeber, wie es Anika Burkhardt kritisiert, geht die vorliegende Arbeit nicht ein.
Dem Charakter einer Diplomarbeit entsprechend, stellt die Schrift dem Nutzer mit Ausnahme eines Abkürzungsverzeichnisses und einer Zusammenstellung der verwendeten Literatur keine weiteren Orientierungshilfen zur Verfügung. Bedauerlicher Weise hat es die Verfasserin auch unterlassen, ihre differenzierten Befunde abschließend in prägnanter Form benutzerfreundlich zusammenzufassen.
Kapfenberg Werner Augustinovic