Klein, Ursula, Humboldts Preußen. Wissenschaft und Technik im Aufbruch. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015. 336 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Mit der die deutschen Einigungskriege abschließenden Gründung des zweiten Deutschen Kaiserreiches 1871 unter der Preußen beherrschenden Dynastie der Hohenzollern vollzog sich in den folgenden Jahrzehnten auch dessen dynamischer Aufstieg zur führenden Industriemacht in Europa. Dieses Take off wäre allerdings nicht möglich gewesen ohne die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Regentschaft des Preußenkönigs Friedrich II. einsetzenden, kontinuierlich aufgebauten und systematisch verbesserten strukturellen Grundlagen. Das vorliegende Werk rückt die heute vielfach schon vergessenen Namen und Leistungen derer in den Vordergrund, die, vom aufklärerischen Geist beseelt, oft keine Mühen und persönlichen Unbequemlichkeiten scheuten, um die Erweiterung technologischer und naturwissenschaftlicher Expertise in enger Anlehnung an die Erfordernisse der Praxis zu befördern. Aus der Betrachtung ihres Wirkens ergeben sich Rückschlüsse für die Beantwortung der Frage nach einer korrekten Einschätzung des Verhältnisses zwischen obrigkeitlichen Vorgaben und der Privatinitiative der Forscher im Hinblick auf die erzielten Fortschritte.
Im Ergebnis sei die in der älteren Literatur, aber auch noch bei Christopher Clark [Preußen: Aufstieg und Niedergang, 1600 – 1947 (2007)] ventilierte, „undifferenzierte Gleichsetzung von staatlicher merkantilistischer Wirtschaftspolitik mit der Politik des Königs“ im Licht der nun gewonnenen Erkenntnisse nicht länger haltbar: „Die Anfänge der Industrialisierung Preußens […] gingen nicht vom Hauptmachtzentrum, dem König und seinem Potsdamer Kabinett, sondern von den Sachdepartments des Generaldirektoriums aus. Die dort arbeitenden reformorientierten Minister und leitenden Beamten – wie Hagen, Heinitz, Struensee, Hardenberg und Beuth – waren es, die in einer Allianz mit sachkundigen Naturforschern und Technikern Innovationsprojekte anschoben und sie begleitende Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen gründeten. Humboldt, Klaproth, Lambert und zahlreiche andere wissenschaftlich-technische Experten Preußens gingen ein enges Bündnis mit Reformbeamten ein oder gehörten selbst der Beamtenschaft an. Dieses über mehrere Generationen hinweg bestehende soziokulturelle Bündnis war es, das die Industrialisierung Preußens, die Institutionalisierung der wissenschaftlich-technischen Fachausbildung und die Entwicklung der Natur- und Technikwissenschaften in den Jahrzehnten um 1800 vorantrieb“ (S. 302f.).
Die sich in fünf Abschnitte gliedernde Arbeit (Humboldt im kameralistischen Preußen – Faustische Ambitionen – Humboldts Bergmeisterleben – Entdecken und Erfinden – Reformstrategien) zeigt die Vernetzungen auf, die sich in jener Zeit nicht zuletzt durch die breit gefächerten Interessen der Protagonisten zwischen den sich entwickelnden Wirtschafts- und Wissenschaftszweigen herausbildeten. Der durch die im Zuge seiner (in diesem Band nicht näher thematisierten) Forschungsreisen erbrachten Leistungen weltweiten Ruhm erlangende Alexander von Humboldt (1769 – 1859) beteiligte sich wie „die große Mehrheit der deutschen Naturforscher am kameralistischen Diskurs über nützliches Wissen, an dem auch Staatsbeamte, Techniker und andere Praktiker partizipierten“ (S. 19). Um diese „nützlichen Wissenschaften“, die Vorläufer der späteren Technikwissenschaften, voranzutreiben und für das Gemeinwohl fruchtbar zu machen, war es notwendig, dass die an verantwortlicher Stelle agierenden Staatsbeamten nicht nur über juristische Kenntnisse, sondern darüber hinaus vor allem über eine einschlägige Sach- und Fachkompetenz verfügten. Dies trifft beispielsweise auf den Sachsen Friedrich Anton von Heinitz (1725 – 1802) zu, der als langjähriger preußischer Minister und Leiter des zentralen preußischen Bergwerks- und Hüttendepartments auch für die Akademie der Künste, das Salzdepartment und die Königlich Preußische Porzellanmanufaktur (KPM) verantwortlich zeichnete. In dessen Dienst trat auch der junge Alexander von Humboldt, den seine botanischen Interessen zum Bergwesen und einem Studium an der renommierten Bergakademie zu Freiberg/Sachsen (in Preußen konnte eine derartige Institution, wie der vorliegende Band nachweist, erst 1860 verwirklicht werden) geführt hatten: 1793 wurde er in Franken als Oberbergmeister mit einem vielfältigen, anspruchsvollen Aufgabenspektrum eingesetzt, es folgten „vier rastlose Jahre, in denen Humboldt Gruben befuhr, betriebliche und technische Anweisungen gab, Finanzetats berechnete, Dienstberichte verfasste, eine Bergschule gründete, die Grubenluft analysierte, eine Grubenlampe und eine Atemmaske erfand und nicht zuletzt auch mineralogische, geognostische und physiologische Naturforschung betrieb“ (S. 156). Dass er trotz dieser erfüllenden Aufgaben dennoch 1797 den preußischen Staatsdienst quittieren sollte, erkläre sich vor allem aus zwei Sachverhalten: seinem Plan einer großen, mehrjährigen Forschungsreise und den hierarchischen Machtverhältnissen im absolutistischen Preußen, denen seine Sympathie für die Ideale der Aufklärung, sein Freisein von adeligem Standesdünkel und sein soziales Engagement entgegenstanden.
Vor und neben Humboldt wirkte indes eine große Zahl weiterer Vertreter jenes hybriden Typus des „Naturforscher-Technikers“, zumeist mit einem bewundernswerten persönlichen, oft auch materiellen Einsatz, war doch der preußische Staat in der Bereitstellung öffentlicher Mittel, wie gezeigt wird, oft alles andere als großzügig. Sie „organisierten und koordinierten die körperliche Arbeit von Handwerkern und Arbeitern, legten aber auch selbst Hand an beim Messen und Analysieren materieller Objekte […,] gründeten Laboratorien, führten neue experimentelle Techniken ein, konstruierten Messinstrumente und machten sich auf Vor-Ort-Inspektionen mit gewerblichen Techniken vertraut […,] protokollierten ihre Messdaten und experimentellen Resultate […,] trugen (auf diese Weise) zur Verschriftlichung handwerklich-technischen Wissens bei […,] organisierten überdies die Weitergabe technischen Wissens und Könnens in den neuen wissenschaftlich-technischen Lehrstätten [… und] gingen noch einen entscheidenden Schritt über lokal nützliches, praktisches Wissen hinaus, indem sie auch Naturforschung betrieben“ (S. 295f.). So erwuchs die Mehrzahl der führenden Chemiker der Zeit - so Andreas Sigismund Marggraf (1709 – 1782) oder Martin Heinrich Klaproth (1743 – 1817), der Entdecker des Urans - aus dem Kreis experimentierender Apotheker. Chemische Expertise wurde in der Landwirtschaft (Rübenzuckerprojekt) ebenso unverzichtbar wie im Berg- und Hüttenwesen und in der Porzellanherstellung, wo das ursprünglich von den Arcanisten streng gehütete Geheimnis (arcanum) der Massebereitung und der Farbenherstellung für die Porzellanmalerei mit der Einsetzung fachkundiger Staatsbeamter bald der privaten Verfügung entrissen und in staatliche Obhut übergeleitet wurde.
Den Erkenntnissen der Verfasserin Ursula Klein zufolge, deren berufliche Karriere zunächst 1979 mit dem Gymnasiallehramt für Biologie und Chemie einsetzte und sie nach der Promotion 1993 und der Habilitation für Philosophie und Geschichte der Wissenschaften im Jahr 2000 sowohl zu einer außerordentlichen Professur an der Universität Konstanz als auch an das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin führte, sei es nicht erst die über Dekrete und Gesetze durchgesetzte Stein-Hardenbergsche Verwaltungsreform gewesen, durch die ein neuer Regierungsstil grundgelegt wurde. Schon „Jahrzehnte zuvor“ habe es „oft unsichtbar bleibende Impulse“ gegeben, die „insofern fundamental (waren), als sie den Wertekatalog und das Verhaltensrepertoire der Beamtenschaft betrafen und diese allmählich veränderten“. So begannen „Dienst für das Gemeinwohl, technischer Sachverstand, Leistungswille, Anerkennung individueller Leistung, Wille zur offenen Kommunikation und Bereitschaft zum Wissenstransfer innerhalb des Beamtencorps […] den alten Werte- und Verhaltenskodex der adligen Beamtenelite allmählich abzulösen“ (S. 305) und damit den Weg zu einer modernen bürgerlichen Gesellschaft als Nährboden des industriellen Aufschwungs zu ebnen.
Über das Personen- und ein Sachregister im (auch den Fußnotenapparat und das durch das Anführen einer Vielzahl zeitgenössischer Publikationen hervorstechende Literaturverzeichnis beherbergenden) Anhang ist der Inhalt dieser gehaltvollen Studie gut erschlossen. Die bereichernden, in Schwarzweiß gedruckten Abbildungen zeigen vor allem Porträts der zahlreichen vorgestellten Pioniere aus Naturwissenschaft und Technik sowie die Stätten ihres praktischen Wirkens, vornehmlich Laboratorien. Im Fall einer Neuauflage der Arbeit wäre die Ausmerzung der den Band durchziehenden sprachlichen Flüchtigkeitsfehler zu begrüßen.
Kapfenberg Werner Augustinovic