Kellerhoff, Sven Felix, „Mein Kampf“. Die Karriere eines deutschen Buches. Klett-Cotta, Stuttgart 2015. 367 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Eine vor gut 15 Jahren einsetzende, verstärkte Beschäftigung der Forschung mit der Entwicklung des frühen Hitler (zu nennen sind hier Arbeiten Anton Joachimsthalers, Brigitte Hamanns, Othmar Plöckingers und Thomas Webers) hat unter anderem eines zutage gefördert: Vieles, was in Hitlers autobiographischer Bekenntnisschrift „Mein Kampf“ (1925/1926) über jene Jahre zu lesen ist, wurde mit der Absicht der Selbststilisierung geschrieben und darf nicht als zweckfreie Dokumentation seines Lebens missverstanden werden. Automatisch rückte damit „Mein Kampf“ als historische Quelle wieder stärker in den Fokus des Interesses und gab zu Publikationen Anlass, an deren Spitze Othmar Plöckingers „Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers ‚Mein Kampf‘ 1922–1945“ (2006) steht. Mit Spannung wird bereits die ein langjähriges Desiderat einlösende, von Christian Hartmann und seinem Team am Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ) besorgte, kommentierte wissenschaftliche Ausgabe erwartet, die 2016 nach Auslaufen des Urheberschutzes - so sich keine weiteren rechtlichen Hürden auftun - der Öffentlichkeit präsentiert werden soll.
Damit trifft es sich ganz gut, dass sich der medienrechtlich versierte Historiker, Journalist und Sachbuchautor Sven Felix Kellerhoff im Vorfeld der wesentlichen Fragen um dieses umstrittene Werk noch einmal zusammenfassend angenommen hat. Wer bisher keine Gelegenheit hatte, das Werk zu studieren, wird hier, verteilt auf 15 Kapitel, in gut lesbarer Sprache über die zu beachtenden Kontexte weitgehend korrekt und umfassend aufgeklärt. Auf 35 Seiten referiert der Verfasser kritisch zunächst den Inhalt der beiden Bände von „Mein Kampf“ und stellt fest, dass in Summe „nur zwei Hauptintentionen durchgängig nachvollziehbar“ seien: „ein radikaler, bis zu Vernichtungsfantasien reichender Antisemitismus und die gefühlte Berufung, dem deutschen Volk durch die Eroberung von Lebensraum im Osten eine Zukunft zu verschaffen, die durch eine angestrebte, aber völlig unrealistische Verständigung mit Großbritannien ermöglicht werden sollte“ (S. 49). Im Weiteren erfährt man zum Akt des Niederschreibens, dass Hitler Band I seines Werks in der Landsberger Zelle nicht, wie oft behauptet, seinem Gefolgsmann Heß diktiert, sondern höchstpersönlich in die Maschine getippt hat und erst bei Band II von einer Schreibkraft unterstützt worden ist. Quellen, derer er sich bei der Abfassung des Werkes inhaltlich bedient haben dürfte, könnten zwar namhaft gemacht werden, doch mache „seine Methode der selektiven, willkürlichen und vorurteilsgesteuerten Lektüre […] eine verlässliche Rekonstruktion seiner Gedankengänge unmöglich“ (S. 84). Die nachfolgenden Abschnitte kontrastieren die von der Forschung festgestellten Fakten zu Hitlers Biographie – etwa zur Entwicklung seines Antisemitismus, zu seiner Herkunft, seinen Wiener Jahren, seinem Exodus nach Bayern, seinem Kriegsdienst und seinem Eintritt in die Deutsche Arbeiterpartei (DAP) – mit seinen eigenen Ausführungen in „Mein Kampf“ und folgern aufgrund der erheblichen Diskrepanzen: „Sachliche Genauigkeit interessierte Hitler so wenig wie logische Argumentation. Die Verfälschungen, die er bei der Schilderung seines eigenen Lebens vornahm, waren mindestens zum Teil vorsätzlich und dienten der Stilisierung: Hitler erfand sich sein Leben rückblickend so, wie es ihm politisch nützlich erschien“ (S. 129).
Die zeitgenössische Kritik reagierte auf Hitlers Buch, das aus noch ungeklärten Gründen selbst in parteieigenen Publikationen nur schwach beworben worden sei, zunächst gespalten. Band I (1925) erregte eine gewisse Aufmerksamkeit und fiel dann wieder dem Vergessen anheim, Band II (1926) fand ebenfalls nur wenig Resonanz. Erst die Wahlerfolge der NSDAP 1929 sorgten für ein gesteigertes Interesse an dem Buch. Der Text im Umfang von insgesamt etwa 219.000 Wörtern konnte zwar „noch nicht festgelegte, gebildete Leser weder sprachlich noch argumentativ überzeugen, also für den Nationalsozialismus gewinnen. Dagegen bediente e(r) perfekt die Affekte völkisch-antisemitischer Kreise, zudem mit einer buchstäblich überwältigenden Rhetorik. […] Deshalb erwies sich alle Kritik als letztlich hilflos“ (S. 157). Die zahlreichen Überarbeitungen, die „Mein Kampf“ im Laufe der Zeit erfuhr, waren marginal oder betrafen lediglich das Erscheinungsbild (Antiqua statt Fraktur). Der einzige nachweisbare substantielle Eingriff in den Inhalt war eine Änderung der Wahlprinzipien der NSDAP. Hieß es dazu zunächst: „Die Bewegung vertritt im Kleinsten wie im Größten den Grundsatz einer germanischen Demokratie: Wahl des Führers, aber unbedingte Autorität desselben“, wurden die Begriffe „germanische Demokratie“ und „Wahl“ in der Folge eliminiert, sodass man fortan las: „Die Bewegung vertritt […] den Grundsatz der unbedingten Führerautorität, gepaart mit höchster Verantwortung“ (S. 166). Überraschender Weise wurde hingegen eine Passage in „Mein Kampf“, in der Hitler das Widerstandsrecht gegen eine diktatorische Herrschaft ausdrücklich bejaht, niemals gestrichen oder adaptiert. Angestoßen durch den berechtigt erhobenen Vorwurf, Hitler verrate durch die Preisgabe Südtirols an Italien völkische Grundsätze, diktierte dieser im Frühsommer 1928 eine weitere, als sein „Zweites Buch“ in der Forschung bekannte Schrift, die seine außenpolitischen Leitlinien näher skizziert; die Arbeit wurde nicht veröffentlicht, „offenbar nahm Hitler die 324 Blatt nach dem Diktat im Juni und Anfang Juli 1928 nie mehr zur Hand“ (S. 187).
Ursprünglich als verlässliche persönliche Einnahmequelle für Hitlers Schatulle gedacht, gestaltete sich der Absatz von „Mein Kampf“ bis 1929 eher schleppend; mit der Machtübernahme 1933 wurde die Konjunktur hingegen erheblich angefacht („das Fünffache des Verkaufs bis Ende 1932, während sich die Zahl der Parteimitglieder […] in derselben Zeit etwas mehr als verdreifachte“, S. 201), um dann bis Kriegsbeginn wieder etwas abzuflauen. Sven Felix Kellerhoff berichtet über unterschiedliche Ausgaben des Werks (darunter auch eine Blindenausgabe) und mehr oder weniger erfolgreiche Initiativen des Eher-Verlages zur Steigerung des Umsatzes. Inklusive der letzten, 1027. – 1031. Auflage, seien schließlich 12,4 Millionen Exemplare des Werkes erschienen, zwei Drittel davon während des Zweiten Weltkriegs. Ihrem Verfasser, mit dem die Finanzbehörde laut den erhaltenen Akten „bis 1932 nachsichtig, aber im Wesentlichen doch rechtmäßig (umging)“, den sie aber nach der Machtübernahme „klar rechtswidrig […] die Hälfte seiner privaten Einkünfte aus Mein Kampf pauschal und ungeprüft als Werbungskosten“ absetzen ließ, um ihn ab 12. März 1935 unter Erlass seiner inzwischen aufgelaufenen Steuerschuld von über 400.000 Reichsmark und Niederschlagung des eröffneten Verfahrens „fortan überhaupt keine Steuern mehr“ zahlen zu lassen (S. 219ff.), erwuchsen daraus Einnahmen von „deutlich mehr als zwölf Millionen Reichsmark“ (S. 223) – für ihn nicht mehr als ein „Nebenertrag“ in Anbetracht von mindestens 50 Millionen Reichsmark für den Abdruck seines Konterfeis auf Briefmarken aus dem Titel der Nutzung der Persönlichkeitsrechte am eigenen Bild und von 700 Millionen Reichsmark aus Mitteln der ‚Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft‘
Trotz diverser Unwägbarkeiten könne aus Nachkriegsumfragen verhältnismäßig seriös geschlossen werden, „dass zumindest jeder fünfte der 1946 lebenden erwachsenen Deutschen Mein Kampf teilweise oder ganz gelesen hatte. […] Ein ‚ungelesener Bestseller‘ war Mein Kampf […] mit Sicherheit nicht“ (S. 228f.). Dieses Interesse an dem Buch sowohl bei Parteigängern als auch bei Gegnern der NSDAP ist nur konsequent, da „Hitler darin in der für ihn typischen sprunghaften Art die Grundzüge seiner Weltanschauung dar(legte), die vielen taktischen oder pragmatischen Abweichungen in Einzelfragen zum Trotz die Basis seiner Politik ab 1933 wurde“ (S. 259), weshalb die Lektüre – damals wie heute - einen Schlüssel zum Verständnis dieser Politik bereitstellt. Juristisch gesättigt sind die Ausführungen, die Sven Felix Kellerhoff den drei letzten Kapiteln seiner Studie vorbehalten hat; sie thematisieren (Teil-)Übersetzungen und illegale Ausgaben von „Mein Kampf“ im Ausland, beleuchten die deutsche Rechtslage in Bezug auf „Mein Kampf“ seit dem Ende der NS-Herrschaft und werfen einen Blick auf die nähere Zukunft. Wie sich erweist, ging der Eher-Verlag gegen unautorisierte Veröffentlichungen im Ausland aus politischen oder pragmatischen Erwägungen nicht einheitlich vor, denn selbst gewonnene Prozesse brachten in der Praxis oft wenig, wie ein französisches Beispiel zeigt: „Das Pariser Handelsgericht hatte den verursachten Schaden […] auf exakt einen Franc festgesetzt, denn der ganze Rechtsstreit sei als Werbung anzusehen, falls sich der Eher-Verlag entschließen sollte, selbst eine französische Ausgabe herauszubringen“ (S. 281). Seit 1948 (und endgültig, nach Ausschlagung des Erbes Hitler durch die Bundesrepublik, seit 1958) liegen der Nachlass Hitler und damit die Urheberrechte an „Mein Kampf“ bei dem Freistaat Bayern, der mit seiner strikten Auffassung, „dass der Verbreitung des Buches […] mit zivilrechtlichen, strafrechtlichen, administrativen und anderen geeigneten Mitteln tatkräftig entgegengetreten werden soll“ (S. 291), in Konflikt mit der Geschichtswissenschaft geraten ist, die aus forschungsmäßigen wie aus geschichtsdidaktischen Gründen für (kommentierte) Neuausgaben eintritt. Antiquarische Exemplare unterlägen, anders als Neudrucke, ohnedies keinem Verbot, wie eine umstrittene Entscheidung des Bundesgerichtshofs 1979 klargelegt hat (vgl. S. 300ff.). Obwohl Hitlers Buch „in nahezu allen denkbaren Varianten heute weltweit verfügbar“ und damit für jedermann jederzeit greifbar sei, habe dennoch „der Freistaat Bayern bis zum unweigerlichen Auslaufen des Urheberrechts Ende 2015 jede konkrete Auseinandersetzung mit dem Originaltext verweigert“ (S. 314).
Mittlerweile ist dieses Datum erreicht, und man darf der angeblich mit 5000 einzelnen Erläuterungen versehenen, etwa 2000 Seiten umfassenden wissenschaftlichen Edition des Werkes seitens des IfZ mit wohlwollendem Interesse entgegensehen. Andreas Wirsching, der Direktor des IfZ, schreibt: „Die Empfehlung zur kritischen Lektüre drängt sich gerade angesichts der nicht endenden und sich wechselseitig in allen denkbaren Formaten verstärkenden medialen Präsenz Hitlers und des Nationalsozialismus auf. Diesem Kreislauf des Neuen und Immergleichen kann der Interessierte nur entkommen, wenn er ad fontes geht. Dass ,Mein Kampf‘ einen eminenten Quellenwert für die Geschichte des Unheils besitzt, ist […] unbestreitbar“ [Andreas Wirsching: Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition des Instituts für Zeitgeschichte. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 43-45/2015, S. 16]. Realistische, mit dieser Edition einhergehende Gefahren kann auch der Rezensent keine erkennen, im Gegenteil: Wissenschaftlich-kritisch aufbereitete Ausgaben eignen sich denkbar schlecht für propagandistischen Missbrauch. Das Wegfallen der bisherigen Aura des Geheimnisvollen (weil mutmaßlich Verbotenen) wird den sachlichen Umgang erleichtern, ein unvoreingenommener und mündiger heutiger Leser, der im Gegensatz zum zeitgenössischen über die Bilanz von zwölfeinhalb Jahren NS-Herrschaft Bescheid weiß, wird den Text vor dem Hintergrund seines Wissens über den tatsächlichen Verlauf der Geschichte rezipieren und einordnen können. Wo ihm die historischen Detailkenntnisse fehlen, stellt der Kommentar die erforderlichen Informationen bereit. Auch die Opfer des NS-Regimes sollten bei allen verständlichen Vorbehalten gegen eine Wiederverbreitung von „Mein Kampf“ dem Befund zustimmen können, dass solcherart vertiefte Einblicke in das aggressive rassistische und bellizistische Wesen der NS-Ideologie anhand der authentischen Äußerungen ihres ersten Protagonisten ein aufklärerisches Potential bergen, dem man sich in einer Zeit gefestigter demokratischer Reife nicht verschließen sollte.
Kapfenberg Werner Augustinovic