Harten, Hans-Christian, Himmlers Lehrer. Die Weltanschauliche Schulung in der SS 1933-1945. Schöningh, Paderborn 2015. 707 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Nachdem der Gymnasiallehrersohn Heinrich Himmler die Schutzstaffeln der NSDAP (SS) als Reichsführer-SS unter seine Fittiche genommen hatte, baute er diese Institution nicht nur sukzessive zum dominierenden Herrschaftsinstrument des nationalsozialistischen Staates aus, sondern beanspruchte für seinen „Schwarzen Orden“ zugleich die Rolle einer Speerspitze in der Interpretation der Weltanschauung. Der Aufbau eines dieser Aufgabe gewachsenen, internen Schulungs- und Erziehungswesens der SS hatte die Erreichung dieses Zieles zu gewährleisten. Erstmalig liegt nun der Versuch einer Gesamtdarstellung dieses bedeutsamen Komplexes vor. Der voluminöse Band, den Hans-Christian Harten mit großzügiger Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in mehrjähriger Arbeit erstellt hat, bildet dabei nur den ersten Teil eines umfassenderen Vorhabens; die Analyse der weltanschaulichen Schulung der Polizei soll trotz der zeitweise engen Verknüpfung mit jener der SS einem Folgeband vorbehalten sein, da der Polizeiapparat als staatliche Institution strengeren Vorgaben zu genügen hatte. Abschließend soll dann der Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis, also zwischen den Schulungsmaßnahmen und den nachfolgenden Tathandlungen der Geschulten, der im vorliegenden Band nur angedeutet wird, aufgearbeitet werden, ein Vorhaben, auf dessen methodische Umsetzung man besonders gespannt sein darf.
Als den eigentlichen Schöpfer der SS-Schulung identifiziert der Verfasser Richard Walter Darré, den ersten Leiter des Rasse- und Siedlungsamtes der SS, aus einer von dessen Abteilungen das spätere Schulungsamt (zunächst unter Karl Motz, 1937 reorganisiert unter Joachim Caesar) hervorgehen sollte. Darré, selbst Verfasser der Schrift „Neuadel aus Blut und Boden“ (1930), „wollte [Hans F. K.] Günthers [rassenanthropologische und rassenhygienische] Ideen in die Tat umsetzen und einen neuen Bauernadel schaffen […]. Das erste Auslesekriterium war die Qualität des Erbguts […]. Weitere Kriterien waren die Bewährung in der Gattenwahl und in der Leistung für die Volksgemeinschaft. Ein besonderes Anliegen Darrés war die Abschaffung aller Reste des ‚artfremden‘ römischen Rechtes in der Landwirtschaft zugunsten des germanischen ‚Odalsrecht[s]‘, nach dem in der Regel nur der älteste Sohn Hoferbe sein kann – dies gehörte zu den wichtigsten Maßnahmen, die er später als Landwirtschaftsminister traf“ (S. 19). So wurde seine schon vor 1933 entwickelte Bauernschulbewegung zum Impulsgeber der weltanschaulichen Schulung der SS. Allerdings: „Darrés Konzept ging am Ende nicht auf, weil seine Utopie einer von ‚nordischer Aufrassung‘ begleiteten Reagrarisierung mit den weit ausgreifenden militärischen Eroberungsplänen Hitlers nicht vereinbar war“ (S. 21). 1938 kam es zum Bruch zwischen ihm und dem pragmatischen Himmler, Darré trat als Chefs des nunmehrigen Rasse- und Siedlungshauptamtes (RuSHA) zurück und verlor damit jeden Einfluss auf die Schulungsarbeit. Diese wechselte zudem vom RuSHA zu August Heißmeyers (ab August 1940: Gottlob Bergers) SS-Hauptamt (SS-HA): „Mit Wirkung vom 1. 7. 1938 schied das Schulungsamt nach einem Erlass Himmlers vom 1. 8. aus dem RuSHA aus und trat ‚als sachbearbeitendes Amt für alle Fragen der Weltanschaulichen Schulung der Gesamt-SS zum SS-Hauptamt‘. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Schulungsamt 31 hauptamtliche Mitarbeiter und 430 ehrenamtliche Schulungsleiter […]. Mit der Verlegung ins SS-Hauptamt war insbesondere auch die Gefahr eines Auseinanderbrechens der weltanschaulichen Schulung von Allgemeiner SS, Verfügungstruppen und Totenkopfverbänden gebannt, weil deren Inspektionen und Befehlsstellen ebenfalls dem SS-Hauptamt unterstanden. […] Die Verlegung […] und die durch Himmler initiierte Neukonzeption der Schulungsarbeit erscheint daher aus der Rückschau auch als Ausdruck des Bestrebens, die militärische Ausrichtung und Expansion der SS voranzutreiben ohne ihren Ordenscharakter deshalb aufzugeben“ (S. 77). Eine weitere Reorganisation sollte 1942 folgen, als der Chef des SS-HA, Gottlob Berger, vorübergehend persönlich in der Nachfolge Joachim Caesars die Leitung des Schulungsamtes übernahm und Führungspositionen mit Leuten seines Vertrauens aus dem südwestdeutschen Raum besetzte; er maß „der weltanschaulichen Schulungsarbeit eine Schlüsselrolle in der Kriegführung“ zu und verfolgte energisch „den Aufbau einer ‚großgermanischen Waffen-SS‘, die durch eine ‚germanische Erziehungsarbeit‘ zu einem einheitlichen Verband zusammengefügt werden sollte“. Der Geschäftsverteilungsplan des Schulungsamtes aus jener Zeit weist mit 55 Referaten etwa doppelt so viele wie 1937 aus; er unterstreiche „eindrucksvoll das Ziel und den Anspruch, ein wissenschaftlich begründetes und pädagogisch anspruchsvolles Schulungsmaterial herzustellen, das auf alle Fragen eine Antwort gab, alle Zweifel zerstreute und eine wirksame Waffe im Weltanschauungskrieg lieferte“. Damit entwickelte sich „das Schulungsamt immer mehr zu einer Art Akademie – Himmlers Vision des ‚enzyklopädischen Lehrplans‘ mündete in einen neuen SS-Gelehrtenstand“ (S. 129ff.). 1943 erhielt Berger unter dem Titel eines „Inspekteurs für die weltanschauliche Erziehung“ auch ein Inspektionsrecht für die gesamte SS und Polizei. Außerhalb des SS-HA verblieben bestimmte Schulungskompetenzen weiterhin beim RuSHA (Ausbildung von Rasseexperten als Eignungsprüfer für die rassische Musterung und Bewertung von Volksdeutschen und der Bevölkerung in den besetzten Gebieten) und beim Hauptamt „Dienststelle Obergruppenführer Heißmeyer“ (Inspektion der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten und Leitung der SS-Mannschaftshäuser an den Hochschulen, welche die SS mit geeignetem, akademisch qualifiziertem Führernachwuchs versorgen sollten).
Diese hier grob gezeichnete Entwicklung der Schulungsinstitutionen, ihres Personals und ihrer inhaltlichen Ausrichtung erörtert der Verfasser sehr detailreich im ersten Abschnitt seiner Darstellung; ihm folgen exemplarische Einblicke in die Schulungspraxis einzelner Verbände und Schulen der Waffen-SS sowie der Totenkopfverbände und der Konzentrationslager, ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit der weltanschaulichen Schulung west-, ost- und südosteuropäischer Freiwilligenverbände der Waffen-SS. Von besonderem Aussagewert sind die abschließenden Kapitel vier und fünf, die sich eingehend der Analyse des eingesetzten Schulungsmaterials und der Sozialstruktur des Lehrpersonals widmen. In den als Basis der Schulung eingesetzten SS-Leitheften werden von 1936 bis 1944 insgesamt 1.157 Beiträge gezählt und kategorisiert, mit durchaus überraschenden Ergebnissen; der Verfasser ortet „1. ‚selbstreferentielle‘ Beiträge, die sich mit Geschichte, Aufgaben und Struktur der SS oder der NSDAP befassen – die Leithefte waren dafür überraschenderweise kein Ort […] mit 4,8% aller Beiträge […]; 2. Beiträge zur nationalsozialistischen Weltanschauung im engeren Sinn (naturkundlich-philosophische Grundlagen, Rassenkunde, Bauerntum und deutsches Volkstum) – mit 36% aller Beiträge bildet dieser Komplex den eigentlichen Kern des Leitheftes; 3. Geschichte […] 17% […]; 4. Institutionenkunde und Tagespolitik: mit 11% […]; 5. ‚Gegnerkunde‘ – […] mit 9,8% nur von sekundärer Bedeutung; lediglich 2,7% aller Texte befassen sich explizit mit dem Judentum, und auch der Bolschewismus spielt mit 1,6% keine nennenswerte Rolle […]; 6. unmittelbar kriegsbezogene Beiträge: sie bildeten mit knapp 25% die zweite Hauptgruppe aller Beiträge […]“ (S. 431f.). Diese Verteilung legt nahe, dass entsprechende Kenntnisse über die „Erzfeinde“ Judentum und Bolschewismus bei SS-Mitgliedern als selbstverständlich vorausgesetzt worden sind und daher andere Themen in der weltanschaulichen Ausbildung Priorität erlangten. Die SS-Leithefte wurden des Weiteren durch eine große Zahl zusätzlicher Schulungstexte – 88 Handblätter bis 10 Seiten Umfang, 39 Broschüren und Stoffsammlungen bis 25 Seiten, 47 Texte bis 50 Seiten, 36 Texte bis 100 Seiten, 19 Bücher über 100 Seiten, 53 Bildbände und 8 Kompendien (vgl. S. 433f.) – ergänzt; nach Untersuchung ihrer Inhalte und ihrer Autoren listet ein Kapitelanhang 264 Titel in alphabetischer Folge auf, rekonstruiert die wichtigsten Textreihen und erfasst ihre Strukturdaten tabellarisch in jährlicher Abfolge (vgl. S. 482ff.).
Daran, dass „Himmlers Lehrer“ ihr Geschäft verstanden, kann kein Zweifel bestehen. So ergibt die eingehende soziologische Analyse des Verfassers, man habe es „mit einer akademisch gebildeten, professionsspezifischen […] Elite zu tun, die zu einem großen Teil einen gehobenen oder höheren Beamtenstatus hatte, in ihrer Mehrheit der Kriegsjugendgeneration angehörte, früh für den Nationalsozialismus sozialisiert wurde und dem Kern einer aktivistischen nationalsozialistischen Führungselite zuzurechnen ist“ (S. 502). Da sich die Studie überwiegend auf SS-Personalakten des ehemaligen German Document Center stützt, ist es Hans-Christian Harten möglich, viele Mitglieder des SS-Schulungskaders biographisch näher vorzustellen, darunter den späteren bundesdeutschen, 1977 von der Roten Armee Fraktion (RAF) ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer (S. 541f.) und zahlreiche Österreicher (S. 545ff.). Diese Männer vermittelten offenbar aus tiefer Überzeugung „die Hauptelemente des Schulungscurriculums: die grundlagentheoretischen Annahmen der Rassen- und Vererbungslehre, die geschichtliche Herleitung der Mission des Deutschen Reichs für die Neuordnung Europas nach rassenpolitischen Prinzipien und der kämpferische Heroismus als das Mittel, diese Mission zu verwirklichen. Die rassenbiologischen und geschichtlichen Begründungen besaßen für ihre Protagonisten wissenschaftliche Dignität; nicht zuletzt war es der Zweck der Schulung, den Eindruck dieser Dignität zu vermitteln. Daher der enorme Aufwand, mit dem der Ausbau des Schulungsamtes zu einer SS-Akademie betrieben wurde. Sehr wahrscheinlich waren die meisten Mitarbeiter dieser ‚Akademie‘ von der Wissenschaftlichkeit ihrer Arbeit auch selbst überzeugt“ (S. 581). Diese Gewissheit, mit der nachweislich intelligente, mit hochkarätigen Bildungsabschlüssen versehene Menschen unkritisch offenkundig unrichtigen oder intersubjektiv nicht überprüfbaren Lehren unbedingten Glauben geschenkt haben, gehört wohl zu den erstaunlichsten und kaum erklärbaren Phänomenen der nationalsozialistischen Epoche.
Es ist mittlerweile mehr als ein Jahrzehnt her, dass Jürgen Matthäus, Konrad Kwiet, Jürgen Förster und Richard Breitman vier Studien unter dem Titel „Ausbildungsziel Judenmord? ‚Weltanschauliche Erziehung‘ von SS, Polizei und Waffen-SS im Rahmen der ‚Endlösung‘“ (2003) vorgelegt und darin auf die bisher unterschätzte Bedeutung der internen ideologischen Schulung hingewiesen haben. Hans-Christian Hartens Monographie liefert nun endlich einen an institutionellen, personellen und inhaltlichen Parametern ansetzenden, konzisen Überblick über die Schulungsmaßnahmen, der vor allem durch seinen Materialreichtum in biographischer Hinsicht beeindruckt und eine überfällige Forschungslücke schließt. Der avisierte Folgeband zur Polizeischulung und zum praktischen Niederschlag der Schulungsinhalte lässt eine weitere Verdichtung dieses Wissens erwarten. In Anbetracht der bedeutenden, großem Fleiß geschuldeten Leistung erscheinen die kleinen Mängel der Arbeit kaum der Erwähnung wert. So wären in Anbetracht des Faktenreichtums im Dienste eines besseren inhaltlichen Überblicks periodische Zusammenfassungen der wesentlichen Erkenntnisse und eine chronologische Auflistung des Wandels der institutionellen und personellen Zuständigkeiten im SS-Schulungswesen von Nutzen. Nicht nachvollziehbar ist, weshalb keinem der Korrektoren die durchgehend falsche Schreibung der Begriffe „Adjutant“ und „Adjutantur“ (jeweils mittig mit „d“; vgl. z. B. S. 69, 129, 147, 280) aufgefallen ist.
Kapfenberg Werner Augustinovic