Halbrainer, Heimo/Lamprecht, Gerald, Nationalsozialismus in der Steiermark. Opfer. Täter. Gegner (= Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern 4). StudienVerlag, Innsbruck 2015. 464 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die Vermittlung akademischen Geschichtswissens an die breite Öffentlichkeit und an ein jugendliches Publikum ist mit dem Problem konfrontiert, dass anspruchsvolle Fachliteratur auf einen thematisch wie terminologisch eingearbeiteten Expertenkreis abzielt und den Durchschnittsleser in der Regel überfordert. Es sind daher Initiativen zu begrüßen, die sich bemühen, die komplexen Erkenntnisse der Wissenschaft inhaltlich und sprachlich so zu adaptieren und zu präsentieren, dass Interessierten eine allgemeine Rezeption ermöglicht und zugleich eine unzulässige Trivialisierung vermieden wird. Die Reihe zum Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern ist in diesem Sinne als Jugendsachbuchreihe konzipiert. Als Herausgeber fungiert der am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck habilitierte Horst Schreiber im Auftrag von _erinnern.at_ , einem seit 2009 bestehenden, vom österreichischen Bundesministerium für Bildung und Frauen (BMBF) getragenen Verein, dessen wissenschaftlicher Beirat von den Historikern Brigitte Bailer-Galanda, Eleonore Lappin, Bertrand Perz, Falk Pingel und Heidemarie Uhl sowie von dem Politologen Anton Pelinka gebildet wird. Die Einrichtung verfolgt den Zweck, „die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust im österreichischen Bildungswesen anzuregen und zu fördern. Dazu gehören sowohl die Geschichte als auch die Auswirkungen dieser Geschichte auf die Gegenwart.“ Es gehe darum, „diese lange verdrängten Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen für den Schulunterricht aufzubereiten“ (S. 14), ein Ziel, das bereits in Form von Lehrmitteln und Lernmitteln, einer Wanderausstellung auf der Basis von Zeitzeugeninterviews, einer Homepage zum Schicksal der Roma und Sinti und Online-Materialien zu Rassismus und Antisemitismus umgesetzt werde.

 

Die einzelnen Bände der Jugendsachbuchreihe folgen, obwohl durch jeweils eigene Autorenteams gestaltet, einer einheitlichen Grundstruktur, die durch den gemeinsamen, die Reihenfolge der Personengruppen wohl nicht zufällig wählenden Untertitel „Opfer – Täter – Gegner“ eine programmatische Anzeige erfährt. Dem Vorwort des Herausgebers und Werner Dreiers als Geschäftsführer von _erinnern.at_ , das sich im Wesentlichen in der lokalen Variation und Adaptierung einiger feststehender Textbausteine erschöpft, folgend, wird zunächst die Geschichte des jeweiligen Bundeslandes von 1918 bis 1938 im historischen Kontext erläutert. An die Darstellung der nationalsozialistischen Machtergreifung („Begeisterung und Verfolgung“) reihen sich Ausführungen zum Alltagsleben unter dem Nationalsozialismus, speziell auch zur Situation der Jugend, dann vor allem aber Kapitel zu den Verbrechen (Zwangsarbeit, Euthanasie, Verfolgung und Völkermord) und zum Widerstand; der letzte Abschnitt beleuchtet den Zeitraum von 1945 bis zur Gegenwart und den Umgang mit dem Erbe der NS-Zeit. Fast immer sind die Überschriften der Beiträge als konkrete Fragen formuliert (etwa: „Was ist der austrofaschistische Ständestaat?“), die vom Folgetext beantwortet werden, den zahlreichen Zeitzeugenporträts ist stets der Name der betreffenden Persönlichkeit vorangestellt, dem eine Kurzcharakteristik folgt (beispielsweise: „Koloman Wallisch: Ein steirisch-ungarischer Sozialdemokrat als Bürgerschreck“). Die Bände sind reich bebildert; praktisch jede Doppelseite ist zumindest mit einer, meist jedoch mit mehreren, von erläuternden Texten begleiteten Abbildungen in Schwarzweiß versehen. Ein üppig ausgestatteter Anhang wartet jeweils mit den folgenden Elementen auf: einem Anmerkungsapparat; einem Quellen- und Literaturverzeichnis; einem Sach- und Personenlexikon; einem Personenregister; einem Ortsregister des jeweiligen Bundeslandes; einer Kurzvorstellung der Autoren nebst Ausweis der Autorenschaft der einzelnen Beiträge. Ergänzend zu diesen gemeinsamen Elementen geben die lokalen Besonderheiten und Schwerpunkte des jeweiligen Bundeslandes (also spezifische Ereignisse, nur dort vorhandene Einrichtungen, aus dem Land stammende und/oder dort wirkende Persönlichkeiten von Bedeutung usw.) den weiteren Rahmen für die quantitative Behandlung der entsprechenden Themen vor. Der vorliegende Band zum Nationalsozialismus in der Steiermark ist der vierte der Reihe.

 

Die Lage in der Zwischenkriegszeit war in diesem Bundesland durch zwei wirkmächtige Konstellationen determiniert. Die bedeutende Industrie in der Mur-Mürz-Furche mit ihrer selbstbewussten Arbeiterschaft brachte es mit sich, dass die Auseinandersetzungen der Kräfte des austrofaschistischen Ständestaats mit dem sozialdemokratischen Schutzbund in dieser Region mit besonderer Heftigkeit ausgetragen wurden und nicht nur zahlreiche Opfer forderten, sondern auch jegliches Vertrauen in den demokratischen Prozess auf lange Sicht zerstörten und damit einen geschlossenen Widerstand in der NS-Ära unterbanden. Aufgrund des Vertrags von Saint Germain 1919 erfuhr die Steiermark mit der erzwungenen Abtretung der gesamten Untersteiermark zudem einen überaus herben Verlust, der zahlreiche Deutsch- Untersteirer ihrer angestammten Heimat beraubte und ein bedeutsames deutschnational-revanchistisches Potential schuf, das in der nationalsozialistischen Ideologie seine Bedürfnisse gewahrt sah. Es ist daher wohl kein Zufall, dass nach größeren Demonstrationen die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Graz der im übrigen Österreich vorausging und Graz den NS-Ehrentitel der „Stadt der Volkserhebung“ einbringen sollte, denn „als Adolf Hitler Truppen in Österreich einmarschieren lässt, sind alle öffentlichen Posten und Funktionen in der Steiermark bereits von Nationalsozialisten besetzt“ (S. 86). Nach der Niederwerfung Jugoslawiens im April 1941 wird Gauleiter und Reichsstatthalter Sigfried Uiberreither auch Chef der Zivilverwaltung in der für die folgenden Jahre bis Kriegsende rückgegliederten Untersteiermark.

 

Der oben dargelegten Struktur folgend, versammeln die einzelnen Kapitel viel Wissenswertes über die Grundlagen und die konkrete Ausgestaltung der nationalsozialistischen Politik vor Ort sowie über das jeweilige Verhalten betroffener Bevölkerungsteile und Individuen. Bei den immer wieder eingestreuten Zeitzeugenporträts geht es den Verfassern offensichtlich vor allem um ein verstärktes Erinnern an die im Vergleich zu den Tätern meist weniger prominenten Opfer des Systems und um die Würdigung ihrer Verweigerung. Für die Zwischenkriegszeit dominieren neben Persönlichkeiten von überregionaler Wirksamkeit wie dem Heimwehrführer und Putschisten von 1931, dem Judenburger Rechtsanwalt Walter Pfrimer, und dem im Rahmen der Februarkämpfe 1934 hingerichteten Arbeiterführer Koloman Wallisch, noch Skizzen der deutschnationalen Wegbereiter und geistigen Steigbügelhalter der NS-Herrschaft: des Politikers und Verlegers Leopold Stocker (dessen Grazer Verlag heute immer noch tätig ist), des Dichters Hans Kloepfer, des Verlegers und Pfarrers Friedrich Ulrich, des Bischofs und späteren römischen Fluchthelfers schwerbelasteter NS-Täter Alois Hudal und des an der Universität Graz wirkenden Dermatologen und Eugenikers Rudolf Polland. Auf Seiten der Proponenten und Unterstützer des NS-Systems findet sich zuoberst eine Charakteristik des Gauleiters Sigfried Uiberreither; sodann der „Illegalen“ und NS-Bürgermeister Franz Neukirchner (Mürzzuschlag) und Anton Wolfbauer (Leoben); als Propagandisten des neuen Regimes erscheinen der bildende Künstler Heinz Reichenfelser sowie die Autoren Paul Anton Keller und Hélène Grilliet. Als Täter aus den Reihen der Polizei werden Paul Hillinger, Ludwig Zwickler und Adolf Herz näher vorgestellt. Ihnen stehen – hier alphabetisch gereiht - jene gegenüber, die aus rassischen Gründen verfolgt, vertrieben oder ermordet wurden, die der „Euthanasie“ zum Opfer fielen, die den Wehrdienst verweigerten oder sich ihm zu entziehen suchten, und jene, die der nationalsozialistischen Herrschaft in sonstiger Form die Gefolgschaft verweigerten oder sie aktiv bekämpften: Franz Baranyai, Ludwig Biró, Anton Buchalka, Franz Dollnig, Karl Drews, Sepp Filz, Siegfriede „Frieda“ Hauberger, David Herzog, Josef Kohler, Adele Kurzweil, Ida Maly, Franz Pascutti, Kapistran Pieller, Lorenz Poketz, Franz Riegler, Elisabeth „Lisl“ Sinic, Helmut Spielmann, Adolf Stengl, Samuel Weiss, Richard Zach. Dazu treten Anastasija und Ekaterina P. Chabotina sowie Jan Otrebski als exemplarische Vertreter der aus ihrer Heimat zur Zwangsarbeit in die Steiermark Verschleppten, des Weiteren Josefa und Rupert Posch, als Retter von fünf ungarischen Juden als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet, während die Rolle des „Judenschleppers“ Josef Schleich umstritten bleibt. Zwischen 1938 und 1945 sollen „zwischen 2.900 und 3.000 Jüdinnen und Juden“ in der Steiermark von Verfolgung betroffen gewesen sein, nach bisherigen Forschungen müsse man davon ausgehen, „dass zumindest 750 Menschen aus der Steiermark Opfer des Holocaust wurden“ (S. 228).

 

Auf dem Gebiet der Steiermark befand sich kein eigenständiges Konzentrationslager, wohl aber bestanden „insgesamt acht kleinere bis kleinste Außenlager des KZ Mauthausen“ (S. 259), deren drei wichtigste, zu Produktionszwecken betriebene sich in Eisenerz, Aflenz bei Leibnitz und Peggau-Hinterberg befanden. Traurige Berühmtheit erlangte das sogenannte Massaker am Präbichl bei Eisenerz, ein „Endphasenverbrechen“, bei dem am 7. April 1945 um die 200 sich auf dem Evakuierungsmarsch nach Mauthausen befindliche ungarische Juden von der örtlichen Alarmabteilung und dem Volkssturm vorsätzlich erschossen wurden. Über die Ahndung berichtet der Band: „Ab April 1946 finden in der Steiermark Prozesse […] statt. Das Britische Militärgericht verurteilt im ersten […] Eisenerzprozess zehn Personen zum Tode, unter ihnen auch der Kreisleiter der NSDAP Leoben, der den Befehl zum Massaker am Präbichl gegeben hat. Diesem Prozess folgen bis November 1947 elf weitere Prozesse. Insgesamt sprechen die Gerichte 30 Todesurteile aus, 22 werden vollstreckt. Auch die österreichische Justiz ahndet diese Verbrechen vor so genannten Volksgerichten, die neben hohen Zuchthausstrafen auch zwei Todesurteile fällen“ (S. 352).

 

Die beiden Verfasser, Heimo Halbrainer, Leiter des Vereins für Geschichts- und Bildungsarbeit CLIO in Graz, und Gerald Lamprecht, Leiter des Centrums für jüdische Studien der Universität Graz, sind bereits durch eine größere Zahl an Publikationen zur steirischen Zeitgeschichte hervorgetreten und bringen dadurch eine Menge Expertise in den Band ein. Der hohe Informationsgehalt ihrer Darstellung wird somit, über den angepeilten Leserkreis hinaus, im Großen und Ganzen selbst gehobene Ansprüche zufriedenstellen, wenn auch der Fachmann die eine oder andere wesentlich erscheinende Information doch vermissen könnte. Beispielsweise erscheint die Frage berechtigt, weshalb auf Seiten der Täter die beiden aus dem Steirischen Heimatschutz hervorgegangenen, auf dem Balkan eingesetzten prominenten SS-Führer im Generalsrang und gebürtigen Steirer August (Edler von) Meyszner (geb. in Graz; Höherer SS- und Polizeiführer Serbien) und Konstantin Kammerhofer (geb. in Turnau; Beauftragter des Reichsführers-SS im Unabhängigen Staat Kroatien) keine Erwähnung finden. Möglichem Zeitdruck mag es geschuldet sein, dass den Verfassern zusätzlich einige Fehler unterlaufen sind, so wenn der Doyen der steirischen Volkskunde, Viktor von Geramb, sowohl mehrfach im Text (S. 45 u. 73) als auch im Personenregister (S. 453) in falscher Schreibung erscheint (Victor von Geramp). Der kurze Beitrag zu Bischof Alois Hudal (S. 76f.) weist gleich an mehreren Stellen grobe grammatikalische Mängel auf, zudem gibt der Begleittext zum Bild einen falschen Vornamen (Adolf) an.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic