Halbrainer, Heimo, „Sei nicht böse, dass ich im Kerker sterben muss.“ Die Opfer der NS-Justiz in Graz 1938 bis 1945. Ein Gedenkbuch. CLIO, Graz 2014. 381 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Zum Behuf der Gegnerbekämpfung bediente sich der nationalsozialistische Staat neben einer Exekutive mit erheblich erweiterten Kompetenzen und der verschärften ordentlichen Strafgerichtsbarkeit auch einer Reihe von Sondergerichten, die nach Bedarf eingesetzt wurden und die zügige Aburteilung als politisch definierter Verstöße gegen die ideologisch gesetzte Ordnung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu gewährleisten hatten. Die vorliegende Arbeit des promovierten Historikers und Leiters des Grazer Vereins für Geschichts- und Bildungsarbeit CLIO, Heimo Halbrainer, hat sich das Ziel gesetzt, „erstmals einen Überblick über verschiedene in der Steiermark tätige Sondergerichte“ und deren Wirken zu geben, dabei aber vor allem die Opfer dieser Justiz biographisch zu dokumentieren. „Da es […] kaum noch persönliche Erinnerung an die hier Hingerichteten gibt bzw. kaum jemand die Geschichte deren Widerstandes kennt, sollen mit diesem Buch und dem Erzählen ihrer Geschichte diesen Menschen und ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus ein papierenes Denkmal gesetzt werden“ (S. 10ff.).

 

Im ersten von drei Abschnitten skizziert der Verfasser die NS-Justiz anhand ihrer wesentlichen Rechtsgrundlagen und der Gerichtsorganisation vor Ort. Angestoßen durch ein klassisches Kapitalverbrechen, einen Vierfachmord im Raum Obdach-Unzmarkt, wurde mit Verordnung vom 20. November 1938 neben Wien und Innsbruck im Oberlandesgerichtssprengel Graz zunächst ein Sondergericht (zwei Senate mit jeweils drei Richtern) in Graz eingerichtet, im September 1939 folgte ein weiteres in Leoben, ein drittes, für Kärnten zuständiges amtierte in Klagenfurt. „Insgesamt wurden vom Sondergericht Graz 84 Todesurteile verhängt […]. Das Sondergericht Leoben verurteilte weitere 33 Personen zum Tode“. Am 20. Juni 1938 war zudem die Zuständigkeit des Volksgerichtshofs in Berlin auch für das Gebiet des ehemaligen Österreich verfügt worden. Dessen 6. Senat war „für alle ‚Straftaten außer Landesverrat und Defaitismus, Zersetzung sowie Wehrdienstentziehung in den Reichsgauen Steiermark und Kärnten, Salzburg und Tirol-Vorarlberg‘ zuständig, der 5. Senat […] für den ‚separatistischen Hochverrat‘ in der Steiermark und der 3. Senat […] für ‚Landesverrat zugunsten der UdSSR‘, ‚Defaitismus, Zersetzung und vorsätzliche Wehrdienstentziehung‘“ (S. 26). Ausweitungen der Zuständigkeit erfolgten mit Beginn des Russlandfeldzuges im Juni 1941 sowie mit der Katastrophe von Stalingrad im Jänner 1943. Der Volksgerichtshof verhandelte entweder in Berlin oder in Form seiner „Fliegenden Senate“ auch in Wien, Klagenfurt und Graz; „bei den Verhandlungen in Graz wurden mindestens 450 Urteile gefällt, wovon 126 mit einem Todesurteil endeten“. Zu seiner Entlastung „konnte der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof bei Straftatbeständen des Hoch- und Landesverrats die Strafverfolgung an den Oberstaatsanwalt bei dem Gerichtshof zweiter Instanz in Wien abgeben“ (S. 30). Diese Besonderen Senate beim Oberlandesgericht Wien waren bis September 1944 für ganz Österreich zuständig und tagten auch in Graz und Leoben. Ab 1. Oktober 1944 nahm sodann ein eigener, auch für Kärnten zuständiger Senat für Hoch- und Landesverratssachen des Oberlandesgerichts Graz seine Arbeit auf, und schon ab 1. September operierte ein Marburger Sondergerichtshof für politische Straftaten in der Untersteiermark zur Erfassung „all jene(r) Straftaten, die im Reichsgau Steiermark zur Zuständigkeit des Volksgerichtshofes gehören“ (S. 39). Kompetenzen in der Aburteilung von Delikten des Hoch-, Landes- und Kriegsverrats kamen darüber hinaus dem Reichskriegsgericht, den Feldgerichten in Kriegsgebieten, den Gerichten der Ersatztruppe in den Wehrkreisen (etwa die Gerichte der Division 188 in Graz, der Division 418 in Graz und Innsbruck und der Division 438 in Klagenfurt und Graz), den Militärstandgerichten und den SS- und Polizeigerichten – ihrer Gerichtsbarkeit waren „ab Sommer 1944 auch Mitglieder der Stadt- und Landwacht wie auch des Roten Kreuzes“ (S. 43) unterworfen – zu. Noch Ende März 1945 richtete Gauleiter Sigfried Uiberreither in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar in Graz zusätzlich ein eigenes Standgericht ein. Der Verfasser zeichnet nicht nur die Struktur dieser Institutionen nach, sondern benennt auch zahlreiche Juristen namentlich und berichtet darüber hinaus allgemein über die Einrichtung der Richtstätte und den Ablauf der insgesamt 155 Hinrichtungen im Gebäude des heutigen Landesgerichts für Strafsachen in der Grazer Conrad von Hötzendorf-Straße ab August 1943, bis „am 27. März 1945 der damals diensthabende Wachkommandant das Fallbeil hatte verschwinden lassen“ (S. 49).

 

Im dritten Abschnitt fragt Heimo Halbrainer einerseits nach der Aufarbeitung der NS-Justiz in der Steiermark, andererseits nach der Gedenkkultur im Zusammenhang mit ihren Opfern. Was die Juristen der Sondergerichte angeht, unterschied sich der Umgang mit ihnen nicht von dem im übrigen Österreich oder in der Bundesrepublik Deutschland. „Nach teilweise umfangreichen Vorerhebungen gegen Richter und Staatsanwälte wurden letztlich einige wenige wegen ihrer Illegalität verurteilt. Viele Verfahren wurden aber, ohne dass die Öffentlichkeit dies je mitbekommen hat, eingestellt. Die gleichzeitig mit den Vorerhebungen 1945 vom Dienst suspendierten Richter wurden teilweise bald schon wieder eingestellt und einige machten Karriere im Justizapparat der Zweiten Republik. Ihnen, wie auch jenen, die in Pension gingen, wurden die Jahre ihrer Tätigkeit an den Sondergerichten zwischen 1938 und 1945 teilweise auf die Vorrückung bzw. die Pension angerechnet.“ Als 1965 Justizminister Christian Broda, gemeinhin bekannt als Vorkämpfer des humanen Strafvollzugs in Österreich, mit diesem Zustand konfrontiert wurde, stellte er sich vor seine belasteten Spitzenjuristen und entschied kurzerhand: „Was 1945 Recht war, muss 1965 billig sein“ (S. 298f.). In diesem gesellschaftlichen Klima stießen Anfang der 1960er Jahre Bemühungen von Opferverbänden um die Errichtung von Memorialsymbolen auf Misstrauen, mangelnde Sorgfalt führte zudem zu peinlichen Fehlern. Das 1961 eingeweihte Internationale Mahnmal auf dem Grazer Zentralfriedhof verzeichnet so „neben den 83 aus politischen Gründen Hingerichteten auch alle als Deserteure erschossenen Soldaten und auch 49 Personen, die wegen krimineller Delikte als ‚Volksschädlinge‘ hingerichtet wurden“ (S. 307). Im 1962 als Gedenkraum eingerichteten, ehemaligen Hinrichtungsraum im Keller des Landesgerichts sollte es bis 2014 dauern, bis „all jene von der Tafel (verschwanden), die als Kriminelle Opfer einer unmenschlichen Justiz geworden waren“, und statt ihrer die aufgenommen wurden, „die aus religiösen, politischen, privaten oder nationalen Gründen aus der Wehrmacht desertiert sind, und die sich vielfach auch Widerstandsbewegungen angeschlossen hatten und deshalb zum Tode verurteilt wurden“ (S. 309). Erwähnt werden anschließend weitere Gedenktafeln und die Benennung von Straßen nach Opfern in den obersteirischen Industriezonen sowie in Kärnten, eigenartiger Weise aber nicht die 1980 errichtete Gedenktafel und der später wieder freigelegte Hinrichtungsbunker auf dem vom Österreichischen Bundesheer als Schießplatz genutzten Feliferhof bei Graz, die dereinst für mancherlei Diskussionen und starken medialen Widerhall gesorgt haben. Gerade dort waren vor der Einrichtung der Richtstätte im Landesgericht Todesurteile von Militär- und Polizeigerichten vornehmlich zwischen 1941 und 1943 vollstreckt worden.

 

Beträgt der Umfang der Kapitel eins und drei jeweils etwa um die 35 Seiten, so nimmt der den Biographien der Opfer gewidmete, zentrale zweite Abschnitt der Darstellung mit 226 Seiten mehr als den sechsfachen Druckraum ein. In zwei großen Blöcken werden unter Vernachlässigung der chronologischen Abfolge von den in Graz Verurteilten zunächst die nach der Etablierung der Grazer Richtstätte dort zwischen 1943 und 1945 Hingerichteten vorgestellt, erst danach folgen jene, die in den Jahren bis 1943 zur Exekution nach Wien gebracht werden mussten. Der Verfasser erstellt dabei keine alphabetisch geordneten Sammellisten, sondern umreißt jeweils kurz den organisatorischen Rahmen in Form der betreffenden Widerstandseinheit und ordnet dieser die entsprechenden, fast immer von einem Portraitfoto begleiteten Personen zu, die dann mit ihren biographischen Eckdaten, ihren Vergehen und ihren Urteilen näher charakterisiert werden. Das Ende beider Blöcke bildet jeweils der versammelte Abdruck jener letzten Briefe, die die Verurteilten einst auf dem offiziellen Weg oder - seltener - als unzensierte Kassiber ihren Hinterbliebenen zukommen ließen.

 

Die Masse der von den Sondergerichten verurteilten und hingerichteten Personen wurde wegen der Zugehörigkeit oder einem Naheverhältnis zu einem als hoch- und landesverräterisch eingestuften Netzwerk belangt. Als ein solches wurde vor allem die verbotene Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) gesehen, die sich in verschiedener Weise im Untergrund zu reorganisieren versuchte und deren Strukturen meist unter Einsatz von eingeschleusten Spitzeln der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) zerschlagen wurden. Betroffen waren die illegale Landesleitung der KPÖ in Graz, die Bezirksleitungen der West- und der Obersteiermark, verschiedene unabhängige Zellen in Betrieben und auch Kommunisten im damals dem Reichsgau Steiermark zugeschlagenen südlichen Teil des Burgenlandes, Angehörige der Roten Gewerkschaft in Graz und Menschen, die unter dem Titel der Roten Hilfe die Familien verhafteter Linksaktivisten in welcher Form auch immer materiell unterstützten. Konkret zur Sabotage schritten nach Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion 1941 Angehörige der Reichsbahn in den Räumen Leoben und Knittelfeld sowie Bergleute in Vordernberg und Eisenerz. Zwar als überparteilich intendiert, aber personell und programmatisch ebenfalls kommunistisch dominiert war die in den obersteirischen Bergen 1943 gegründete Österreichische Freiheitsfront (ÖFF), die Kontakte zu slowenischen Partisanen unterhielt und durch Flugblattaktionen, Unterwanderung von Behörden und Sabotage den NS-Staat attackierte. In Graz, der Untersteiermark und in Kärnten wurden ferner Personen verfolgt, die sich den slowenischen Partisanen, die auf der Basis der im April 1941 auf kommunistische Initiative ins Leben gerufenen Befreiungsfront Osvodilna Fronta (OF) operierten, angeschlossen hatten oder diese unterstützten. Zum Kreis der zum Tode Verurteilten zählen des Weiteren nicht organisierte Einzeltäter, die sich kritisch über die nationalsozialistische Herrschaft oder über den Kriegsausgang geäußert hatten, sowie jene, die den Kriegsdienst verweigerten oder sich diesem durch Desertion zu entziehen versuchten, was verstärkt ab 1943 der Fall war.

 

In der Bilanz, so legt Heimo Halbrainers Arbeit nahe, scheint der aktive Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft in der Steiermark weitgehend von der politischen Linken getragen worden zu sein, jedenfalls dort, wo er sich in Todesurteilen gegen die Träger niedergeschlagen hat. Im Fall der Wehrmachtsdeserteure ist hingegen häufig nicht nachvollziehbar, ob über den - bisweilen nicht einmal sicher erwiesenen -Tatbestand ihrer Desertion hinaus, der per se als Verweigerung gegenüber den Intentionen und Zielen der NS-Machthaber ausgelegt wird, ein oppositionelles Engagement überhaupt vorhanden war. So erfährt man beispielsweise über den 1903 in Axams bei Innsbruck geborenen Hilfsarbeiter und mutmaßlichen Deserteur Franz Wegscheider nur, dass er „Oberschütze der 2. Kompanie des Landschützen-Bataillons 925 (war). Er dürfte desertiert sein, weshalb er vom Gericht der Division 418 Klagenfurt zum Tode verurteilt wurde. Am 20. Oktober [1943] wurde er in Graz hingerichtet“ (S. 158). Unabhängig davon misst die biographische Dokumentation jedem der über 170 präsentierten Einzelschicksale seinen eigenen Wert bei und veranschaulicht, dass gerade unter der einfachen Bevölkerung die Zahl jener Männer und Frauen, die sich dem Regime trotz der Gefahr für Leib und Leben nicht mehr widerspruchslos fügen wollten, nicht gering gewesen ist.

 

Kapfenberg                                                                           Werner Augustinovic