Groß, Katharina Anna, Visualisierte Gegenseitigkeit - Prekarien und Teilurkunden in Lotharingien im 10. und 11. Jahrhundert (Trier, Metz, Toul, Verdun, Lüttich) (= MGH - Schriften 69). Harrassowitz, Wiesbaden 2014. LXIV, 388 S., Abb., 6 Diagr., 1 Karte, 22 Tab. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Zwecks Sicherung seines Wissens entwickelte der Mensch die Schrift und damit zugleich die Gefahr der Fälschung dieses sichernden Mittels, die bis zur Gegenwart trotz allen technischen Fortschritts nicht völlig gebannt werden konnte. Ein früher Versuch der Bekämpfung dieser Gefahr ist die Teilurkunde. Ihr widmet sich für einen eingegrenzten Zeitraum und ein beschränktes örtliches Untersuchungsgebiet die vorliegende, am optimalen Ort veröffentlichte Studie der Verfasserin.

 

Sie ist die im Rahmen einer cotutelle von Brigitte Katen und Laurent Morelle betreute, im Sommersemester 2012 von der philosophischen Fakultät I der Universität des Saarlands und der École Pratique des Hautes Ètudes in Paris angenommene Dissertation der als wissenschaftliche Mitarbeiterin ihrer Betreuerin beschäftigten, drei Wochen vor Einreichen der Arbeit ihre Tochter Henriette zur Welt bringenden und wenige Monate nach der Drucklegung ihrem zweiten Kind entgegensehenden Verfasserin. Ihre verdienstvolle Untersuchung gliedert sich nach einer von Raingardis und den Mönchen von Saint Èvre ausgehenden Einführung über Prekarie, Chirograph und Teilurkunde, Perspektiven der Forschung, Quellen, Fragestellung und Quellen in zwei Abschnitte. Sie betreffen einen systematischen Teil über die personellen Voraussetzungen der Urkundenherstellung, die Prekarien und die Teilurkunden und eine synthetische Geschichte einer Begegnung.

 

Im Ergebnis ihrer durch die Edition zweier ungedruckten Teilurkunden vom 25. November 1059 bzw. 1093, durch einen 30 Nummern umfassenden Katalog der Teilurkunden zwischen 928 und 1121, eine 183 Positionen umschließende Tabelle der Prekarien und Leiheverhältnisse zwischen 901 und 1235 (1005) und 45 teilweise farbige Abbildungen sowie Register der Namen und Urkunden bereicherten, eindringlichen Studie kann sie überzeugend feststellen, dass alle besprochenen chirographierten Leiheurkunden eine ausgleichende Vereinbarung auf Gegenseitigkeit betreffen. Mit ihr wurde nach ihrer Einsicht in Lotharingien an der durch vielfältige Entwicklungen gekennzeichneten Wende vom Frühmittelalter zum Hochmittelalter eine neue Art von auf Gegenseitigkeit beruhendem Vertragshandeln zugrundegelegt. Den dabei möglichen Gefahren begegnete man durch die Verbindung der auf gegenseitige Verpflichtung ausgelegten Leihverträge, die in der Form der Prekarie bereits eine längere regionale Tradition hatten, mit der neuen visuell-performativen Form der auch Analphabeten oder Illiteraten im Grundsatz verständlichen Teilurkunde.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler