Grischany, Thomas R., Der Ostmark treue Alpensöhne. Die Integration der Österreicher in die großdeutsche Wehrmacht, 1938-45 (= Zeitgeschichte im Kontext 9). V & R unipress, Göttingen 2015. 327 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Mit dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 eignete sich jenes auch dessen militärische Ressourcen an, ein vor allem im Hinblick auf die Expansionspläne Hitlers bedeutsamer Zugewinn. Während des folgenden Zweiten Weltkriegs „wurden die Jahrgänge von 1897/98 bis 1927 – jeweils etwa 40.000 Mann – eingezogen. Die Gesamtzahl der Österreicher, die in der Wehrmacht dienten, betrug daher rund 1,3 Millionen, was etwa 40 Prozent der männlichen Bevölkerung ausmachte. 83,2 Prozent dienten im Heer, 13,3 Prozent in der Luftwaffe und 3,5 Prozent in der Kriegsmarine. 201 Personen erreichten den Generalsrang […], und einer […] wurde Konteradmiral. 326 Österreicher wurden mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet. Österreicher dienten an allen Fronten, und die Zahl der gefallenen österreichischen Soldaten beträgt etwa 260.000“ (S. 61). Unberücksichtigt bleiben bei diesen Zahlen offenbar jene weiteren Wehrpflichtigen aus Österreich, die ihren Kriegsdienst in den Reihen der Waffen-SS leisteten.
Diese Fakten stellten die nach dem Krieg wiedererstandene Republik Österreich vor gewisse Probleme. Der für die Staatsgründung konstitutive Mythos von „Österreich als dem ersten Opfer Hitlerdeutschlands“ verleugnete die massive Zustimmung und Mitwirkung von Österreichern an der Ausgrenzungs-, Eroberungs- und Vernichtungspolitik des Dritten Reiches. In der Folge wurden höhere Offiziere der ehemaligen Wehrmacht nicht in das österreichische Bundesheer aufgenommen („Oberstenparagraph“) und eine Traditionspflege der Wehrmacht im Bundesheer der Zweiten Republik untersagt. Nichtsdestotrotz war man auf die militärische Expertise der „Deutsch- oder Kriegsgedienten“ zwingend angewiesen, sodass beispielweise „im Bundesheer der Anteil an ehemaligen Ritterkreuzträgern, die in den Generalsrang aufgestiegen waren, 30 Prozent (betrug), während es in der westdeutschen Bundeswehr nur 15 Prozent waren“ (S. 285). Es spricht somit, abweichend von der offiziellen, politisch korrekten Sprachregelung, in der Praxis vieles für einen Spagat zwischen einer mehr oder weniger stillschweigenden Anerkennung der militärisch-professionellen Leistungen der Wehrmacht unter Ausblendung der NS-Ideologie auf der einen und dem ehrlichen Bekenntnis zur demokratischen Verfassung Österreichs auf der anderen Seite.
Die Ergebnisse der vorliegenden, ursprünglich als Dissertation an der University of Chicago verfassten Studie belegen, dass im Widerspruch zu anderslautenden, im Nachkriegsösterreich politisch vorteilhaften Behauptungen die Integration der Österreicher in die deutsche Wehrmacht von Anfang an weitgehend ohne nennenswerte gröbere Friktionen vonstattenging, sich dann im Laufe des Krieges immer mehr festigte und bis Kriegsende ein Höchstmaß an Kongruenz erreichen sollte. Für die Phase der Eingliederung und Umschulung vor Kriegsbeginn lassen sich, bedingt durch unterschiedliche militärische Traditionen und historische Gegensätze, zwar kleinere, durch unsensible Behandlung auf der einen und Überempfindlichkeit auf der anderen Seite beförderte Reibereien belegen, doch dominierten schon damals die integrativen Kräfte. Dazu zählt der Verfasser den „großdeutschen Gedanken, […] die Vertiefung persönlicher Beziehungen zu reichsdeutschen Kameraden und Zivilisten, die Solidarität unter Besiegten, de(n) gemeinsame(n) Revisionismus sowie eine Aufbruchsstimmung […], die relativ unpolitische Atmosphäre innerhalb der Wehrmacht sowie das beiderseitige Bemühen, österreichische militärische Traditionen und Leistungen der Vergangenheit mit einer größeren deutschen Militärtradition bzw. den Aufgaben des Dritten Reichs in Verbindung zu bringen“ (S. 291). Die erfolgreichen Feldzüge bis zum Sommer 1941 eröffneten den österreichischen Soldaten nicht nur Möglichkeiten militärischer Bewährung und des Erwerbs von Lob und Stolz, sondern machten sie auch zu Nutznießern des Besatzungsregimes. Darüber hinaus waren die Österreicher gleichsam als „Stamm“ mit entsprechenden Eigenheiten im Rahmen der großdeutschen Volksgemeinschaft voll akzeptiert. In der folgenden Phase des Russlandfeldzuges traten diese „positiven“ Bindungskräfte in ihrer Bedeutung zurück hinter die klassische, durch Kameradschaft, aber auch Komplizenschaft gefestigte Frontkämpfergemeinschaft. In der letzten Kriegsphase kämpften die meisten Österreicher loyal bis zum Ende, „in krassem Kontrast zu den massenhaften Desertionen der anderen Neulinge aus den annektierten Ost- und Westgebieten. Zu diesem Zeitpunkt waren österreichische von reichsdeutschen Soldaten praktisch nicht mehr unterscheidbar; der Anteil der nachrückenden jüngeren Jahrgänge […] wurde immer größer, […] die jüngere Generation (war) generell anpassungsbereiter, ehrgeiziger und begeisterungsfähiger. Der Integrationsprozess wurde nur gewaltsam von außen durch die Niederlage der Wehrmacht beendet. Nichts deutet darauf hin, dass die Masse der österreichischen Soldaten sich vom Großdeutschen Reich abgewendet hätte, wenn dieses den Krieg irgendwie überstanden oder sogar gewonnen hätte“ (S. 293).
Hingewiesen muss darauf werden, dass die Quellenbasis, auf die sich die genannten Erkenntnisse stützen, eine verhältnismäßig schmale ist, ein Manko, das der Verfasser, ebenso wie Oliver Rathkolb, der neben John W. Boyer zu dieser Veröffentlichung ein weiteres Vorwort beisteuert, selbst erkannt hat. Diese beruht im Wesentlichen auf „Sichtung, Sammlung, Kategorisierung und Interpretation von Äußerungen österreichischer Wehrmachtsoldaten, die geeignet sind, über deren Erfahrungen […] und Haltungen […] Auskunft zu geben“ (S. 20). In der Hauptsache wurde zu diesem Zweck ein Sample von rund 100 schriftlichen Nachlässen im Wiener Kriegsarchiv ausgewertet, gut die Hälfte davon jedoch von Offizieren stammend, die, wie Thomas Grischany selbst schreibt, aber „nur drei Prozent des Wehrmachtpersonals ausmachten“ (S. 32). Ob die zwanzig ergänzend interviewten Zeitzeugen (die Begegnung mit diesen Veteranen hat den Verfasser so beeindruckt, dass er sie geradezu euphorisch als „Höhepunkt meiner Forschungen“ bezeichnet, S. 12), unter denen sich nur vier Offiziere befunden haben sollen, und Akten aus Freiburg dieses Ungleichgewicht wirklich auszutarieren vermögen, darf hinterfragt werden. Es kann wohl in erster Linie davon ausgegangen werden, dass der Identifikationsgrad mit dem militärischen System bei Funktionsträgern der Führungsebene allgemein höher angesetzt werden muss als bei einfachen Soldaten, denen tiefere Einblicke in Sinn und Zweck ihres Einsatzes verborgen blieben und die sich größeren Unbequemlichkeiten ausgesetzt sahen. Ob ihr Bild der Wehrmacht ein kritischeres als das hier vermittelte gewesen ist oder eine andere Entwicklung genommen hat, wäre durch zusätzliche repräsentative Studien zu prüfen. Anzuregen wären ferner Untersuchungen zur Rolle der Soldaten österreichischer Herkunft beim Einsatz der Waffen-SS.
Auf der anderen Seite drängen sich keine Anhaltspunkte auf, die Veranlassung geben, die plausibel erscheinenden Thesen des Verfassers grundlegend in Zweifel zu ziehen. Oliver Rathkolb gibt mit Bezug auf das im Oktober 2014 in Wien zwischen Ballhausplatz und Heldenplatz zentral errichtete Erinnerungsmal für die Wehrmachtsdeserteure zu bedenken, „ein historisch nicht versierter Betrachter könnte aufgrund der prominenten Lage des Denkmals meinen, dass die Österreicher die aktiveren Wehrmachtsdeserteure gewesen seien, was sie aber nicht waren“ (S. 15). Klar ist: Widerstand oder Verweigerung waren damals und sind auch heute noch keine Optionen der Majorität. Das Bild des pflichtgetreuen österreichischen Soldaten, der sich der neuen Staatsmacht fügt und in der Wehrmacht weitgehend anstandslos seinen militärischen Pflichten nachkommt, passt gut zur Anpassungswilligkeit jener vielen, die nach dem „Anschluss“ das nationalsozialistische System ohne nennenswerte Vorbehalte mittrugen und unterstützten.
Kapfenberg Werner Augustinovic