Gewalt und Politik. Studien zu Nationalsozialismus und totaler Herrschaft. Edition Gert Schäfer, hg. v. Schyga, Peter. Nomos, Baden-Baden 2014. 446 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Vier Jahrzehnte hat der aus Stuttgart stammende, 1941 geborene Gert Schäfer in Hannover gewirkt, volle drei davon – nach Promotion (1973) und Habilitation (1977) ab 1982 – als Professor am Institut für Politische Wissenschaft der Leibniz-Universität, bevor er 2012 verstarb. In Lehre und Forschung hat sich der ehemalige Redakteur und Mitherausgeber kritischer, gesellschaftspolitisch links stehender Periodika (Zeitung „links“, „Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie“) intensiv mit der Theorie politischer Systeme (Marxismus, Sozialismus, Faschismus) befasst. Sein wissenschaftlicher Nachlass in Form verschiedener Manuskripte und Dateien wird nun im Universitätsarchiv Hannover unter der Aktenzahl 2013/06 verwahrt. Auf dieses Material hat der Herausgeber der vorliegenden Edition, Peter Schyga, zugegriffen und die heute noch lesenswerten Gedanken Schäfers in Auswahl einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Diese Schriften dokumentieren in nuce den zeitgeprägten Wandel im gesellschaftlichen System und im Subsystem des wissenschaftlichen Diskurses in Hinblick auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.

 

Peter Schyga spricht vom „‚Erinnerungskampf‘, an dem Gert Schäfer mehrere Dekaden teil hatte, als Arbeit an der jüngeren deutschen Geschichte einst eng mit einer Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen von Gegenwart verwoben (war)“, während heute „das Aufgehen des Nationalsozialismus in erinnerungskulturelle Sphären in eine Zeit des relativ kritiklosen Arrangements mit Formen politischer Herrschaft“ (S. 41f.) falle. Es mache daher heuristisch Sinn, sich retrospektiv wieder der einst erreichten Schärfe in der Analyse zentraler Begriffe und historischer Prozesse zu erinnern. Zu diesem Zweck versammelt der Band überwiegend Vorlesungsmanuskripte Gert Schäfers aus den Jahren 1981/1982 (Vorlesungszyklen „Formen politischer Herrschaft I: Bonapartismus, Faschismus/Nationalsozialismus, Autoritärer Staat“; „Formen politischer Herrschaft II: Autoritarismus und Totalitarismus im 20. Jahrhundert“) und 1993 (Vorlesungszyklus „Der Denkweg Hannah Arendts“), aber auch andere Unterlagen wie die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe im Rahmen des Hauptseminars „Trotzki und der Trotzkismus“ bei Iring Fetscher in Frankfurt am Main aus 1967/1968 („Trotzkis Faschismusanalyse – Der Faschismus als Alternative einer proletarischen Revolution“) und zwei Vorträge („Das Ende von Weimar“, Berlin 1973; „Die Zerstörung der Aufklärung“, Hannover 2003).

 

Mit Franz Neumanns „Behemoth“ (verfasst 1941-1944 im amerikanischen Exil) hat Gert Schäfer 1977 die früheste Strukturanalyse des Dritten Reichs ins Deutsche übertragen und sich, daran anknüpfend, die Kernfrage nach der Transformation sozialer Konflikte in der modernen kapitalistischen Gesellschaft in „Bahnen nationalistischer, rassistischer und imperialistischer Aggression und Identifikation“ (S. 24) gestellt.

 

Auf drei Analyseebenen setzen sich seine Texte mehr oder weniger intensiv mit diesem Problem auseinander. Auf der Ebene der Formen politischer Herrschaft soll zunächst „die Anomalität des ‚Normalen‘ deutlich werden, indem die Besonderheit der NS-Herrschaft gerade den historisch bekannten und entsprechend theoretisch analysierten Herrschaftsformen gegenübergestellt wird“ (S. 26). In diesem Kontext nützen der „Exkurs: Polen und das Kriegsrecht“ (S. 306ff.) und der ihm folgende Abschnitt „Politische Gewalt: Rechtsstaat, Polizeistaat, Nationalsozialismus“ (S. 315ff.) die Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit den theoretischen Positionen Carl Schmitts. Imperialismus, Sozialimperialismus und Bonapartismus bilden sodann wesentliche Untersuchungsgegenstände auf einer zweiten Ebene, jener historischer Kontinuitäten. Dabei legt Schäfer etwa „mit Hannah Arendt und Rosa Luxemburg Wert [darauf] festzuhalten, wie totalitäre Formen politischer Herrschaft und ihre Durchdringung der sozialen Beziehungen von den imperialen Mächten in den Kolonialgebieten angewandt und erprobt wurden, wie sich über diese Praxis ein Rasseimperialismus entwickelte, der dann in den Ursprungsländern allgemein gepflegt [wurde] und sich im Nationalsozialismus bis zur Vernichtungspolitik radikalisierte“. Zwar liege es „in der Natur der Sache, dass die Kapitalien miteinander konkurrieren […]. Nicht in der Natur des Kapitals, wohl aber in der Logik einer die Hindernisse seiner Akkumulation beseitigenden oder reservierte, monopolistisch abgeschlossene Interessenssphären politisch schützenden Gewalten liege es, die ökonomische Konkurrenz mit politischen Waffen auszutragen“ (S. 125). Schließlich steht auf einer dritten Ebene die Herrschaftsrealität des Nationalsozialismus zur Debatte, die Suche nach Antworten auf die entscheidende Frage: „Wie entwickelt sich aus einer bürgerlichen Klassengesellschaft, die in einer demokratischen Republik organisiert ist, eine Gemeinschaft, die andere und schließlich sich selbst zerstört [?]“ (S. 27ff.). Auf Karl Marx fußend, steht für Gert Schäfer dabei die Kritik der politischen Ökonomie im Zentrum der Betrachtung, sodass er den Nationalsozialismus „als besondere Herrschaftsform eines Kapitalismus“ (S. 36) begreift. Schäfer: „Eine kleine Gruppe mächtiger Industrie-, Finanz- und Agrarmonopolisten verschmilzt mehr und mehr mit einer Gruppe von Parteihierarchen zu einem einzigen Block, der über die Mittel der Produktion wie über die Mittel der Gewalt verfügt. Eine große Masse von Arbeitern und Angestellten ohne jegliche eigene Organisation und ohne jedes Mittel, ihre eigenen Ansichten und Gefühle zu artikulieren, steht auf der anderen Seite. Die Vermittlung zwischen beiden Klassen wird durch eine stetig wachsende Zahl von Terroristen bewerkstelligt – Partei, SS, mehr und mehr die SS als aufsteigende, sich auf die polizeilichen Zwangsmittel, auf eigene Armeen, eigene Industrien und auf die Zwangsarbeiterlager sowie die Konzentrationslager stützende Macht“ (S. 158). Die „Herrschaft der Gewalt über Individuum und Gesellschaft bis zur Zerstörung beider“ als typisches Merkmal des Totalitären äußere sich schließlich sowohl in der „willkürliche(n) oder planmäßige(n) (oder beides) Tötung der juristischen Person, d. h. Beseitigung aller individuellen Schutzrechte von Menschen“, als auch in der „Ermordung der moralischen Person, da diese in der Gesellschaft und im Zusammenleben mit anderen Menschen verankert ist,[…] eine Hauptfunktion der Lager“ (S. 34).

 

Wenn auch die Forschung mittlerweile manches Pauschalurteil der frühen Theoretiker durch empirische Studien  korrigieren und  präzisieren konnte, rekapituliert der Band doch eine wichtige Periode deutscher Wissenschafts- und Gesellschaftsgeschichte im Hinblick auf die Erkenntnis und die Bestimmung des Wesens totalitärer Herrschaft. Er verweist auf den Zugewinn an Wissen, der gerade in jenem Zeitraum über die Theoriebildungen zum Faschismus und Totalitarismus erzielt werden konnte, und rückt insbesondere das heute kaum noch beachtete heuristische Potential des wissenschaftlichen Marxismus wieder stärker ins Bewusstsein. Verdienstvoll wäre es gewesen, die vorliegende Publikation, die unter anderem über ein Vorwort aus der Feder Detlef Horsters, eine Einleitung und editorische Hinweise des Herausgebers, einen kurzen Lebenslauf Gert Schäfers und eine Auswahlbibliographie seiner Werke sowie über ein Literaturverzeichnis, aber über keine Suchregister verfügt, vor ihrer Veröffentlichung etwas genauer Korrektur zu lesen und dabei die vereinzelt immer wieder auftretenden Flexionsfehler und sonstigen grammatikalischen und orthographischen Mängel auszumerzen.

 

 Kapfenberg                                                                          Werner Augustinovic