Gerbert, Frank, Endstation Sarajevo. Die letzten sieben Tage des Thronfolgers Franz Ferdinand. Eine Spurensuche von Böhmen bis Bosnien. Kremayr & Scheriau, Wien 2014. 205 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Nicht nur der waidmännische Laie wird sich staunend fragen, wie es einem Einzelnen möglich gewesen sein soll, mit eigener Hand „nach offizieller Zählung […] 274.899 Geschöpfe in Wald und Flur vom Leben zum Tode befördert“ (S. 10) zu haben, einmal ganz abgesehen von der höchst fragwürdigen psychischen Disposition, die man bei einem solchen Tötungsfanatiker vermuten darf. Dass Thronfolger Franz Ferdinand von Habsburg-Este - wie die vorliegende Schrift zu berichten weiß - neben seinen sonstigen tierischen Opfern im August 1913 mit der heute im Salzburger Haus der Natur ausgestellten weißen Gams auch ein sogenanntes „Satanstier“ niedergestreckt haben könnte, dessen Erlegung nach altem Volksglauben ihrem Jäger binnen Jahresfrist den Tod bringe, ist bestimmt nicht sein schwerstwiegender Fehler gewesen und für aufgeklärte Köpfe wohl kaum eine taugliche Erklärung für die Tragödie von Sarajevo.

 

Die unkonventionelle Einleitung passt aber durchaus zu diesem unkonventionellen Buch, das in die Reihe der Jubiläumspublikationen zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren gestellt werden darf. Der mährische Urgroßvater des Verfassers durfte dem Thronfolger einst als Jagdgehilfe dienen, weshalb sich Frank Gerbert für den Erzherzog näher zu interessieren begann; ein erstes Produkt dieser Beschäftigung war die gekürzte, kommentierte Wiederherausgabe von Franz Ferdinands Weltreisetagebuch 1892/1893 unter dem bezeichnenden, einer Notiz des Erzherzogs folgenden Titel „Die Eingeborenen machten keinen besonders günstigen Eindruck“ (2013). Dessen ethnische Ressentiments dokumentiert auch das aktuelle Buch: Indern und Chinesen attestierte der Thronfolger „üble Rasseneigenschaften“, Italiener bezeichnete er häufig als „Katzelmacher“ und im „eigenen Reich verabscheute er neben den Ungarn, dem ‚Hunnenvolk‘, vor allem die Juden“ (S. 69). Franz Ferdinand sei generell „kein Sympathieträger“ gewesen, galt in Armeekreisen als „Wüterich“, der Verfasser nennt ihn überspitzt den „Klaus Kinski der Habsburger“ und hält dem „Ultrakonservative(n), Antidemokrat(en) und Militarist(en)“ dennoch zugute, er sei „in seinen letzten Jahren der Einäugige unter den Blinden in der Führungsschicht der Donaumonarchie [gewesen] – fast als einziger hat er sich dem dort erwogenen ‚Präventivkrieg‘ gegen Serbien widersetzt, weil dieser, wie er überzeugt war, in einen großen europäischen Waffengang münden würde“ (S. 10ff.).

 

Im „Bann dieses seltsamen und schon zu seiner Zeit anachronistischen Menschen“ (S. 14) beschließt der deutsche Journalist Frank Gerbert, seinem Protagonisten 99 Jahre später, im Juni 2013, möglichst zeit- und ortsnah auf dessen letzter Reise zu Lebzeiten zu folgen, wobei er geringfügige Modifikationen aufgrund mittlerweile veränderter Verkehrsinfrastrukturen in Kauf nehmen muss. Eine dem Titelblatt vorgesetzte Karte veranschaulicht die Stationen, die Franz Ferdinand einst zwischen dem 23. und 28. Juni 1914 durchlaufen hat. Ausgehend von Schloss Chlumetz in Böhmen, verlief seine Route zunächst per Eisenbahn über Wien, Graz und Laibach nach Triest, wo er das Marineflaggschiff „Viribus Unitis“ bestieg, von dem er im südlichen Dalmatien zum Anlanden auf die kleinere Jacht „Dalmat“ wechselte. Über den Fluss Narenta/Neretva erreichte der Thronfolger Metković, von wo aus er, wiederum auf dem Schienenweg, über Mostar, den Ivan-Pass (hier fanden die Manöver statt) und Ilidža (wo seine über Budapest anreisende Gattin Sophie zu ihm stieß und das Thronfolgerpaar in der Folge Quartier nahm) nach Sarajevo gelangte. Dieser aufwändige Weg war, der These Frank Gerberts zufolge, bewusst gewählt als „die einzig denkbare Möglichkeit, nach Bosnien zu gelangen, ohne den ihm verhassten [ungarischen, WA] Teil der Habsburgermonarchie zu durchqueren. Ein politisches Statement, eine Drohgebärde gegenüber Budapest!“ (S. 57).

 

Der Verfasser, der 2013 zum Teil mit Mietwagen, Bussen und Fußmärschen statt des Zuges, sowie mit der zivilen Fähre von Rijeka nach Split statt eines Marineschiffes von Triest nach Dalmatien Vorlieb nehmen muss, entfaltet seine trotz der seriösen Thematik durchaus kurzweilige Reiseerzählung in einem angenehm unprätentiösen, bisweilen von feiner Ironie dominierten Stil. Seine Reflexionen, angestoßen durch die Begegnung mit den Originalschauplätzen, materiellen Überresten und Einheimischen berühren dabei drei Zeitebenen, nämlich die Zeit der Habsburgermonarchie um 1914, die jugoslawischen Sezessionskriege des ausgehenden 20. Jahrhunderts und die Gegenwart. Die aufgeworfenen Fragen machen deutlich, dass sich Frank Gerbert vor Antritt seiner Reise mit der verfügbaren Fachliteratur vertraut gemacht hat. So benennt er als Hauptfehler der ansonsten durchaus fortschrittlichen österreichischen Verwaltung in Bosnien, dass „die Habsburger, vom göttlichen Ursprung der sozialen Herrschaftsverhältnisse überzeugt, vor einer Landreform zurück(schreckten)“ (S. 105), sodass „die miese Lage der Orthodoxen der eigentliche Grund war, warum Princip auf Franz Ferdinand geschossen hat“ (S. 173, zit. Mehmed Alićehajić, Lokalhistoriker Sarajevo). Der 28. Juni als serbischer Gedenktag „Vidovdan“ habe in den Überlegungen der Attentäter jedoch, anders als bisweilen behauptet, keine Rolle spielen können, denn das genaue Besuchsdatum wurde erst am 25. Juni öffentlich verlautbart, wohingegen Princip schon im März 1914 allgemein von einem geplanten Besuch des Thronfolgers erfahren und sich daraufhin zur Tat entschlossen hatte.

 

In seinem abschließenden Kapitel „Nachgedanken und Hintergedanken“ beschäftigt sich der Verfasser mit Unterstützung Günther Kronenbitters, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und profunder Kenner Franz Ferdinands, mit Spekulationen um Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit den augenscheinlichen Unterlassungen und Fehlleistungen des Sicherheitsapparates und um die Möglichkeit einer Abwendung der Kriegsgefahr. Wie zu erwarten und lange bekannt, können zwar verschiedene „Nutznießer“ des Attentats, denen Franz Ferdinand in irgendeiner Weise zu nahe getreten war, benannt werden - von Kaiser Franz Joseph höchstpersönlich über Obersthofmeister Montenuovo, Landeschef Potiorek, Generalstabschef Conrad bis hin zum beurlaubten Leiter des Evidenzbüros Urbański - , doch gesteht der Verfasser am Ende ein: „Einen Beweis, dass der Thronfolger einer von österreichischer Seite verschwiegenen Information zum Opfer fiel, kann ich also nicht erbringen. Die Intrige bestand, wenn man so will, darin, dass man ihn dazu bewegte, nach Sarajevo zu fahren, im Wissen um die Gefahr, die er dabei laufen würde. Und F[ranz] F[erdinand] hatte sich durch die Entscheidung, zu reisen, selbst so unter Druck gesetzt, dass er trotz Zweifeln die Sache nicht mehr rückgängig machen zu können glaubte, weil er einen Verlust an Ehre befürchtete“ (S. 194). Ob der Weltkrieg, wie viele Anhänger der „Zündfunken-These“ annehmen, bei der seinerzeit prekären internationalen Gesamtlage auch bei Ausbleiben des Attentats aus anderem Anlass ausgebrochen wäre, ist natürlich nicht feststellbar. Experte Günther Kronenbitter verweist jedenfalls auf eine kleinere Gruppe von Forschern mit gegenteiliger Meinung und gibt darüber hinaus zu bedenken, dass auch bereits der dem Schussattentat vorausgehende, erfolglose Bombenwurf den Thronfolger zu einem Abrücken von seiner Friedensposition Serbien gegenüber bewegen hätte können.

 

Die Masse der aussagekräftigen, jeweils passend im Text placierten Schwarzweiß-Abbildungen zeigt die historischen Schauplätze, kontrastiert mit ihrem aktuellen Erscheinungsbild ein Jahrhundert später. Aber nicht allein die Orte verändern sich. Im Denken mancher Landesbewohner scheint nach den traumatischen Erfahrungen des letzten Jahrhunderts nun eine wehmütige Österreich-Nostalgie Einzug gehalten zu haben. „Es ist eine große Schande, was da passiert ist in Sarajevo, […] die österreichische Periode war eine goldene Zeit für Bosnien. Sie haben uns alles gebracht, Hospitäler, Fabriken, Schulen, Eisenbahnen“ (S. 125), ereifert sich dem Verfasser gegenüber eine Dame in Ilidža. Und noch krasser bringt es sein Taxifahrer in Sarajevo auf den Punkt: „Wissen Sie, was die Bosnier sagen? Wenn dieser Scheiß-Terrorist nicht gewesen wäre, würden wir heute alle Deutsch sprechen und Mercedes fahren“ (S. 108).

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic