Gehler, Michael, Modellfall für Deutschland? Die Österreich-Lösung mit Staatsvertrag und Neutralität 1945-1955. StudienVerlag, Innsbruck 2014. 1382 S., Abb.

 

Die Geschichte der Völker und Staaten von den unbekannten Anfängen bis zur unmittelbaren Gegenwart ist vielfältig und individuell und kann doch nach Gemeinsamkeiten oder Regelmäßigkeiten durchsucht werden. Zu ihnen dürfte gehören, dass einzelne Völker und Staaten in Auseinandersetzungen mit anderen Völkern und Staaten unterliegen und danach von ihnen besetzt und beherrscht werden. Da dieser Vorgang aber meist anderweitig benötigte Kräfte bindet, stellt sich häufig die Frage einer abweichenden dauerhaften Lösung, welche die Interessen der Sieger befriedigt, ohne sie auf Dauer erheblich zu belasten.

 

Mit einem modernen Teilaspekt dieser Problematik befasst sich das gewaltige Werk des 1962 in Innsbruck geborenen, nach dem Abitur in Neustadt bei Coburg in Geschichte und Germanistik in seiner Geburtsstadt ausgebildeten, 1988 mit einer Dissertation über Studenten und Politik im Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck 1918-1938 promovierten und 1999 habilitierten Verfassers, der im Jahre 2006 an die Universität Hildesheim berufen wurde und nach Ablehnung eines Rufes nach Innsbruck einen Ruf zur Leitung des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien unter Beibehaltung seiner Professur in Hildesheim angenommen hat. Seine Studie stellte sich in Kenntnis der umfangreichen vorliegenden Literatur die Aufgabe, Entwicklungen der deutsch-österreichischen Beziehungen von 1945 bis 1955 zusammen mit zahlreichen Dokumenten zu erfassen und neu zu bewerten. Gegliedert ist es dabei nach einer einführenden Vorbemerkung in insgesamt sechs Kapitel über unterschiedliche Entwicklungen in Österreich und Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg bei wechselseitiger Verbundenheit 1945-1952, Vorentscheidungen in der deutschen Frage in der Form eines missratenen Kurzvertrags für Österreich statt eines gelungenen Staatsvertrags, 1953 als Jahr internationaler Veränderungen mit Bewegung in der Deutschlandfrage und der Österreichfrage, fehlgeschlagene Emanzipation von Deutschland 1954 mit der gescheiterten Berliner Außenministerkonferenz und neuen Initiativen, das Entscheidungsjahr 1955 und eine abschließende Zusammenfassung mit einem Ausblick auf die folgenden Jahrzehnte bis zu den 1980er- und 1990-er Jahren.

 

Im überzeugenden Ergebnis seiner ausführlichen, durch Verzeichnisse, eine umfangreiche Chronologie zur Geschichte Deutschlands und Österreichs zwischen 1943/1945 und 1955 sowie ein die besondere Rolle Konrad Adenauers kennzeichnendes Personenregister abgerundeten Darstellung sieht er es als Streitfrage an, ob die Sowjetunion mit der Unterzeichnung des Staatsvertrags und dem Truppenabzug für die Neutralitätserklärung 1955 eine ähnliche Lösung für Deutschland schaffen wollte. Nach seiner Erkenntnis kam, obwohl auch er nicht ermitteln kann, was sich die sowjetischen Führer zwischen 1952 und 1955 genau dachten, der Modellfall in erster Linie aber deswegen nicht zum Tragen, weil er im Westen unerwünscht war, wofür Konrad Adenauer besonders bedeutsam war. In der Folge wurde das kleine Österreich 1955 Subjekt der Weltpolitik, während das große besiegte, besetzte und machtlose Deutschland auch nach 1955 bis zur Herstellung deutscher Einheit im Jahre 1990 Objekt der Weltpolitik blieb.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler