Fischer, Jan-Erik, Zur Auslegung von Unberührtheitsklauseln (= Würzburger rechtswissenschaftliche Schriften 94). Ergon, Würzburg 2015. XXII, 253 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Vielleicht hat irgendwo in grauer Vorzeit das Recht mit einem einzigen Rechtssatz begonnen. Inzwischen ist daraus ein kaum mehr überschaubares Gedankengebilde von höchster Komplexität geworden, in dem viele einzelne Sätze in ihrer Reichweite gegenüber anderen Rechtssätzen abgegrenzt werden müssen. Signifikantes Beispiel hierfür ist nach der Einleitung des Verfassers das aus 44 Paragraphen bestehende, am 1. Januar 2009 in Kraft getretene und von dem Bundesministerium der Justiz als Ergebnis einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Juristen und Philologen im Rahmen des 2006 gegründeten Modellprojekts „Verständliche Gesetze“ gerühmte Wohngeldgesetz, das 14 Unberührtheitsklauseln enthält, von denen sogar vier Unberührtheitsklauseln  jeweils Vorschriften in Bezug nehmen, die selbst wiederum  Unberührtheitsklauseln enthalten.

 

Einen Teilbereich dieser Thematik behandelt die von Olaf Sosnitza betreute, an der juristischen Fakultät der Universität Würzburg angenommene Dissertation des Verfassers. Sie gliedert sich in drei Abschnitte, in denen der Bearbeiter die Grundlagen ermittelt, die Funktionen und Bedeutungsmöglichkeiten untersucht und am Ende eine Zusammenfassung bietet. Den Ausgangspunkt bildet ein einleitender Überblick über Problem und Ziel, Gang  der Untersuchung und den vorangehenden Stand der Wissenschaft.

 

Insgesamt schätzt der Verfasser den Bestand an seit der Reichskammergerichtsordnung des Jahres 1495 erkennbaren, vor allem in den Kodifikationen des 19. Jahrhunderts fortentwickelten, inzwischen infolge unzureichender Präzision die Qualität der Gesetze beeinträchtigenden  Unberührtheitsklauseln („unberührt bleiben die Vorschriften …“)  in Gesetzen und Verordnungen des Bundes und der Länder Deutschlands, die das Wort unberührt oder die Wörter nicht berührt enthalten, auf etwa 20000. Nach der ansprechenden Erkenntnis des Verfassers können diese häufigen Klauseln wegen der unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten (z. B. Konkurrenzverhältnisse) nicht einheitlich ausgelegt werden, so dass jeweils individuelle Auslegungen erforderlich sind, welche die Zusammenhänge der Regelungen erkennen und verstehen müssen. Überzeugend empfiehlt der Verfasser dem Gesetzgeber bei künftigen Gesetzen eine stetige Prüfung daraufhin, ob nicht statt der inflationär gebrauchten Unberührtheitsklausel eine genauere gesetzliche Formulierung möglich ist, wobei er freilich auf Grund der bisherigen Entwicklung kaum eine rasche Veränderung erwartet.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler