Eisfeld, Jens, Erkenntnis, Rechtserzeugung und Staat bei Kant und Fichte. Mohr Siebeck, Tübingen 2015. IX, 467 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Nach der die Fragestellung und die Methode der Untersuchung behandelnden Einleitung des Verfassers analysiert die vorliegende Arbeit die rechtstheoretischen und staatstheoretischen Lehren Immanuel Kants und Johann Gottlieb Fichtes. Dabei stellt sich für den Verfasser nicht nur die Frage nach dem Inhalt der Rechtstheorien und Staatstheorien Kants und Fichtes, sondern vor allem die Frage nach den allgemeinen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen. Die Antwort auf die Frage, wie es zu erklären ist, dass Kant (1724-1804) und Fichte (1762-1814) überzeugt davon sind, mit der Kritik der reinen Vernunft (1781) einerseits und der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794/1795) andererseits die Voraussetzung für ihre Rechtslehre gelegt zu haben, ist dem Verfasser von zentraler Bedeutung.
Die in diesem Zusammenhang geschaffene Untersuchung ist die von Diethelm Klippel betreute, im Wintersemester 2013/2014 von der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth angenommene Habilitationsschrift des seit etwa 1990 in Gießen ausgebildeten, 2004 mit einer Dissertation über die Scheinehe in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert promovierten, zuletzt in Freiburg im Breisgau und in Frankfurt am Main vertretenden Verfassers. Sie gliedert sich in drei Teile. Sie betreffen die Erkenntnis-, Rechts- und Staatslehren Kants und Fichtes in der Forschung, die Gesetzgebung der reinen Vernunft und die Freiheit der praktischen Erkenntnis bei Kant und als Weltproduktion aus dem Ich Johann Gottlieb Fichtes Begründung einer Theorie des positiven Rechtes.
Im Ergebnis gelangt der Verfasser zu einer grundsätzlichen Kritik an weiten Teilen der Forschung, die sich sowohl gegen die Methode wie auch die Ergebnisse wendet. Sie geht davon aus, dass das verbreitete Bild von einem „Kantianer“ Fichte auf einer Interpretation Kants beruht, die systematische Besonderheiten der Lehre Kants, die vom nachkantischen Idealismus abgeschafft oder modifiziert wurden, ohne Hinweis marginalisiert oder außer Acht lässt. So entstehe der aus ideengeschichtlicher Sicht falsche Eindruck, als habe Fichte Kants Grundgedanken übernommen und fortgeführt.
Nach dem Verfasser wird die Lehre Kants durch das philosophiegeschichtliche Schrifttum hinsichtlich der positiven Erkennbarkeit der Dinge an sich und einer Theorie des positiven Rechts umgedeutet. Danach stimmt Kant mit der Philosophie Fichtes überein. Dieser fichtianische Kant entspricht nach dem Verfasser wiederum dem vom einschlägigen Schrifttum gezeichneten Bild Fichtes als eines Denkers, welcher dem wahren Gehalt oder eigentlichen Geist der Philosophie Kants zum Durchbruch verholfen habe.
Tatsächlich bringt nach dem Verfasser Fichte den Systembau Kants durch die Abschaffung der Zweiweltenlehre von Sein und Sollen insgesamt zum Einsturz. Bei Fichte gibt es keine Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Bei Fichte produziert das Ich die Welt vollständig aus sich heraus und begründet auf diese Weise einen materialen Idealismus, der von dem transzendentalen Idealismus Kants zu trennen ist.
Dementsprechend bildet für den Verfasser Fichte ein Beispiel dafür, wie – bei gleichzeitig vorgenommenen grundlegenden Umstellungen im Systembau Kants – die Übernahme der Begrifflichkeit Kants und seiner transzendentalphilosophischen Grundfrage nach den Bedingungen apriorischer Erkenntnis gerade einer antikantischen und antiliberalen Weltanschauung dazu dienen kann, sich philosophisch adäquat auszudrücken. Möge diesen Erkenntnissen umfangreiche Überzeugungskraft beschieden sein. Wer immer etwas aufdeckt, was den meisten anderen Forschern stets unentdeckt geblieben ist, wird dadurch allgemein Anerkennung finden können.
Innsbruck Gerhard Köbler