Draganova, Viktoria, Recht durch Transfer. Der Anfang des bulgarischen Rechtssystems 1878-1920 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 287). Klostermann, Frankfurt am Main 2015. VII, 222 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Der Mensch ist kraft seines Verstands im Laufe der Zeit zu der Einsicht gelangt, dass er über seinen Mitmenschen vielfältige Vorteile gewinnen kann. Aus dieser Erkenntnis hat er sich nicht nur immer wieder mit anderen zusammengeschlossen, sondern sich auch Vorzüge und Fortschritte anderer zu eigen gemacht und für sich verwendet. Hierzu gehört der Rechtstransfer, selbst wenn es ihn entgegen der Ansicht der Verfasserin nicht wirklich schon immer, sondern nur seit der Entwicklung des Rechtes geben konnte.

 

Mit einem einzelnen besonderen Rechtstransfer beschäftigt sich die von Marie Theres Fögen und vor allem nach ihrem frühen Tod von Michael Stolleis betreute, im Sommersemester 2013 von der Universität Frankfurt am Main angenommene Dissertation der Verfasserin. Sie gliedert sich nach einer Einführung über Fragestellung, Quellen und Forschungsstand sowie Übersetzungen und Transliteration in sechs Kapitel. Sie betreffen die Verfassung, den Rechtstransfer mittels Volksversammlung, Gesetzeskommission und Rechtswissenschaft, die Kodifikation, die Rechtsmedien (Nachschlagewerke, Sammlungen der Gewohnheitsrechte, Kommentare), die Rechtssprache und die Gerichte.

 

Im überzeugenden Ergebnis ihrer eindringlichen Betrachtung verschiedener wichtiger Untersuchungsfelder kann die Verfasserin feststellen, dass der Transfer den Anfang des bulgarischen Rechtssystems bildete, wobei die Modernisierung in der Zeit zwischen 1878 und 1920 (so im Titel) bzw. von 1879 bis 1920 (S. 199) (auf Makroebene, Mesoebene und Mikroebene) durch Politik oder Programmatik und durch Übertragung von Gesetzestexten aus dem Ausland geschehen sollte. Als Text beruhte die Verfassung Bulgariens auf einem zum großen Teil übernommenen russischen Entwurf, der mit Bruchstücken der Verfassungen Rumäniens (1866), Serbiens (1869) und Belgiens (1831) versetzt wurde. Die Praxis, ganze Gesetze möglichst auf dem letzten Stand der Wissenschaft zu übernehmen und nur an einzelnen Stellen anzupassen, prägte danach die Gesetzgebung mehr als zwei Jahrzehnte. In der Folge wurden vielfältige Wege der sachlichen Aneignung versucht, die in der Idee einer Kodifikation gipfelten, die sich allerdings in einem Land, in dem sich das Recht nur langsam von seinen Vorbildern löste und die Bemühungen um eine stabile Dogmatik sowie Rechtsetzung noch im Vordergrund standen, als letztlich unmögliches Unterfangen erwies.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler