Diner, Dan, Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage. Deutsche Verlags Anstalt, München 2015. 172 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Zu den ältesten Fragen der Menschheitsgeschichte zählt das Problem der Schädigung des einen durch den anderen, sei sie gewollt oder ungewollt. Hierfür hat sich an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichen Zeiten auch die Möglichkeit des Ausgleichs von Schäden des Opfers durch Leistungen des Täters entwickelt. Sie kann in einem Fall zu Nähe, Verständnis und Verzeihung führen, aber in anderen Fällen die grundsätzliche Distanz ungeachtet aller erbrachten Leistungen völlig unberührt lassen.

 

Mit der besonderen Frage der massenhaften Tötung, Verletzung und Schädigung von Juden während der Umsetzung des von Adolf Hitler geprägten nationalsozialistischen Gedankenguts beschäftigt sich das vorliegende schmale Werk des 1946 in München geborenen, in Frankfurt am Main ausgebildeten, 1973 mit einer völkerrechtlichen Dissertation promovierten, 1980 mit einer gesellschaftswissenschaftlichen Schrift über Tausch und Gewalt im Rahmen zionistischer Struktur israelischer Politik habilitierten und danach für moderne arabische Geschichte in Odense, für außereuropäische Geschichte in Essen, für europäische Geschichte in Tel Aviv, für jüdische Geschichte und Kultur in Leipzig und für moderne europäische Zeitgeschichte in Jerusalem wirkenden Verfassers. Seine Studie ist nach seinen eigenen Dankesworten der vorausgeschickte Teil einer im Entstehen begriffenen größeren Untersuchung zur Geschichte der Verwandlung jüdischer Lebenswelten in der Moderne im Rahmen des Projekts Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen. Gegliedert ist es in vier Abschnitte über die Verhandlungen am Zeremonientisch in Luxemburg, die Terras de idolatria Deutschland und Sefarad, die Stellung bzw. Stellungnahme der Knesset in Jerusalem und die schließliche Lösung der Restitution gegenüber dem jüdischen Volk als ganzes.

 

Wegen des Holocaust war Deutschland ein gebanntes Land, dem bzw. dessen Rechtsnachfolger gegenüber sich der Staat Israel aber wegen seiner fragilen Existenz bald nach seiner Gründung gehalten sah, um so genannte Wiedergutmachung nachzusuchen und diese trotz aller Umstrittenheit durch Verhandlungen zu erwirken. Hierfür versucht der Verfasser die Thematisierung der jüdischen Verwandlung nach dem Holocaust gegenüber Deutschland und den Deutschen und beginnt dabei mit der Unterfertigung des Abkommens vom 10. September 1952 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem jüdischen Volk – vertreten durch den Staate Israel und die Conference on Jewish Material Claims against Germany (Claims Conference) in Luxemburg (in frostiger Stimmung). Anschaulich und spannend kann er zeigen, wie trotz der emotionalen Distanz und Ablehnung nach zähen Verhandlungen der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und Israels wegen das Abkommen am Ende von den Außenministern Sharett und Adenauer unterfertigt wurde, um als internationalrechtlicher Vertrag bei den Vereinten Nationen hinterlegt zu werden, während für den nichtstaatlichen Anteil des jüdischen Volkes Nahum Goldmann als Präsident der Claims Conference die mit dem Vertrag verbundenen Protokolle unterzeichnete.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler