Di Fabio, Udo, Schwankender Westen. Wie sich ein Gesellschaftsmodell neu erfinden muss. Beck, München 2015. 272 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.

 

Zwar fand der Mensch von seinem Anfang an eine scheinbar aufgehende Sonne auf der einen Seite seines Gesichtsfelds und eine scheinbar untergehende Sonne auf der anderen Seite vor und hat dementsprechend seine Umgebung vier Haupthimmelsrichtungen zugeordnet, eine grundlegende Aufteilung der politischen Welt in Osten und Westen ist aber verhältnismäßig neu. Trotz der dabei erkennbaren Siegeszüge des Westens über den Rest ist der mit dem Sonnenuntergang verbundene Westen bereits vielfach als gefährdet angesehen worden. Noch vor dem jüngsten, in seinen Ausmaßen noch kaum wirklich abzuschätzenden Zustrom auf den Westen und sein verlockendes Sozialmodell hat sich der Verfasser engagiert und wortreich mit den Gefahren auseinandergesetzt.

 

Promoviert in Rechtswissenschaft(en) und Sozialwissenschaft(en) wirkte der in Walsum bei Duisburg 1954 als Kind italienischer Einwanderer geborene, nach dem zweiten Bildungsweg 1988 über Rechtsschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren promovierte, 1993 über Risikoentscheidungen habilitierte Öffentlichrechtler an den Universitäten Münster, Trier, München und Bonn sowie von 1999 bis 2011 als Richter des zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Vor allem hier dürfte sich sein Weltbild, in dem er sich grundsätzlich mit der Kultur der Freiheit und dem Verhältnis von wachsender Wirtschaft und steuerndem Staat auseinandersetzte, in Richtung auf die Gesamtheit des Westens geöffnet haben. Dementsprechend beklagt er  trotz des immensen Erfolgs des Westens ein zunehmendes Fehlen des Bewusstseins für die normativen und praktischen Grundlagen von Freiheit und Wohlstand.

 

In sechs Teilen mit 16 Kapiteln nähert er sich dem Westen mit der Frage seines Wesens, findet Aufklärung und Humanismus als normative Signaturen der Gegenwart, verbindet Gemeinschaft und Vertragsgesellschaft, sucht die Politik der Gesellschaft in der normativen Doppelhelix von freier Entfaltung und Selbstregierung, fragt, warum die Demokratie vom gut geordneten Markt abhängt, und ermittelt trotz der Einheit Europas als Wirtschaftsintegration schließlich die Zukunft Europas als offen. In dieser Lage plädiert er am Ende für eine Belohnung des sich selbstentfaltenden,  verantwortlichen Lebens in Freiheit. Dazu scheinen ihm für Bildung, Wissenschaft, politische Programmatik und öffentliche Moral die Wiedergeburt und die Neuerfindung des westlichen Weges, in gegenseitiger Achtung rechtssicher zu leben, die beste Lösung, die hoffentlich leistet, was sie durch ihn verheißt.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler