Deutsche Berichte aus dem Osten 1942-1943. Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion III, hg. v. Mallmann, Klaus-Michael/Matthäus, Jürgen/Cüppers, Martin/Angrick, Andrej (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart 26). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2014. 892 S. 32 Abb., 3 Kart. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Mit dem dritten Band der Dokumente der Einsatzgruppen in der Sowjetunion findet die Edition dieser einzigartigen Quelle zum Ostkrieg und zu den mit ihm einhergehenden, in der Ideologie des Nationalsozialismus wurzelnden Vernichtungsmaßnahmen ihren Abschluss. Das Prädikat des Einzigartigen ist dabei im doppelten Sinn zu verstehen: Zunächst in Bezug auf die mitgeteilten Inhalte, die, von Täterhand festgehalten, deren blutiges Werk über einen längeren Zeitraum hinweg kontinuierlich dokumentieren, dann aber auch, was die Überlieferung angeht. Denn ähnlich wie beim Protokoll der berühmten Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942, von dessen ursprünglich 30 Ausfertigungen nur eine einzige per Zufall auf uns gekommen ist, haben sich auch die Berichte des Berliner Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), die zunächst täglich erstellten „Ereignismeldungen“ (EM) und die sie im Mai 1942 ablösenden, wöchentlichen „Meldungen aus den besetzten Ostgebieten“ (MbO), trotz des von ursprünglich nur zehn Verteilern auf fünfzig und mehr Bezieher ausgeweiteten Kreises dieser als „Geheime Reichssache“ klassifizierten Informationen offenbar nur in einer einzigen vollständigen Sammlung erhalten, die amerikanische Soldaten 1945 im einstigen Hauptquartier der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in der Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin sicherstellen konnten. Umso mehr ist das Editionsvorhaben zu begrüßen, das nun die genannten Dokumente der Wissenschaftsgemeinde zu Forschungszwecken bequem zugänglich macht, wenn auch die Herausgeber zugeben, dort, wo es aufgrund von offensichtlichen Nebensächlichkeiten vertretbar erschien, zu „maßvollen Streichungen“ gegriffen zu haben, um die „Quellensammlung besser handhabbar zu machen, ohne bei der Nutzung auf wesentliche Inhalte verzichten zu müssen“ (S. 13). So eingängig dieses Argument aus editionstechnischer Sicht sein mag, beinhaltet es doch Ansatzpunkte zur Kritik, da die jeweiligen Fehlstellen lediglich durch die bekannte Auslassungsklammer „[…]“ angezeigt werden; transparenter und damit weniger angreifbar wäre es zweifellos gewesen, das Ausgelassene inhaltlich in Form eines knappen Regests in der Klammer zu referieren.

 

Im Anschluss an den 2011 publizierten ersten Band der Edition, der 149 Meldungen des Jahres 1941 enthält, greift nun der dritte Band diese Linie mit der EM Nr. 150 vom 2. 1. 1942 bis zur EM Nr. 195 vom 24. 4. 1942 weiter auf; daran schließen nahtlos die Meldungen aus den besetzten Ostgebieten an, beginnend mit der MbO Nr. 1 vom 1. 5. 1942 und nach einem Jahr endgültig auslaufend mit MbO Nr. 55 vom 21. 5. 1943. Diese Formatänderung von den EM zu den MbO brachte nicht allein einen Wechsel des Erscheinungsrhythmus mit sich, sondern auch formale und inhaltliche Umstellungen. In der Form lehnen sich die nun mit einer Art von zusammenfassendem Inhaltsverzeichnis versehenen Berichte (diese Verzeichnisse werden in der vorliegenden Edition mit Ausnahme eines Musterbeispiels allerdings nicht abgedruckt) eng an die Struktur der (von Heinz Boberach 1984/1985 in 17 + 1 Bänden edierten) „Meldungen aus dem Reich“ (MR) des Inlands-SD an. Die in den EM unter der Rubrik „Reich und besetzte Gebiete“ regelmäßig auftauchenden und für österreichische Forschungsbelange besonders interessanten Berichte zur Lage in der Untersteiermark, in Kärnten und Krain verschwanden mit Einführung der MbO von der Bildfläche. Zu den Ursachen der endgültigen, abrupten Einstellung der Berichtsformate der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) im Mai 1943 gibt es bislang nur spekulative Mutmaßungen, aber keinerlei stichhaltige Belege.

 

Gesichert ist hingegen, dass die Meldungen der Jahre 1942/1943 gegenüber jenen von 1941, unter anderem bedingt durch Bemühungen um eine nunmehr verstärkte Verschleierung und Geheimhaltung der tatsächlichen Vorgänge im Osten, deutliche Unterschiede erkennen lassen. Obwohl „parallel zur militärischen Entwicklung Sicherheitspolizei und SD, Ordnungspolizei, Wehrmacht, Zivilverwaltung und einheimische Kollaborateure in den deutschbesetzten Gebieten ab 1942 eine zweite Verfolgungswelle gegen die sowjetischen Juden (organisierten)“ und gleichzeitig ein „stetig steigender Terror gegen die nichtjüdische Zivilbevölkerung“ ausgeübt wurde, sei nun, „verglichen mit der Intensität der EM aus 1941 der Informationsfluss zu den konkreten Auswirkungen der deutschen Vernichtungspolitik [man denke hier beispielsweise an die freimütige Schilderung des Massakers von Babij Jar bei Kiew, EM Nr. 106 vom 7. 10. 1941, Bd. 1, S. 642; WA] jedoch deutlich schwächer. Dafür schlug sich die gesamte Partisanenproblematik in dieser Periode ungleich stärker nieder als noch im ersten Kriegsjahr [gegen die Sowjetunion, WA]“ (S. 9f.). In letzterem Zusammenhang betonen die Herausgeber den hohen Quellenwert der bisher leider von der historischen Forschung vernachlässigten MbO, offenbarten doch diese schon im Frühjahr 1943 „eine Lage, in der deutsche Besatzungsinstanzen die Kontrolle in manchen Gebieten in einer Weise verloren hatten, die wenig Hoffnungen auf Besserung machte. In ihrem Aussagewert wären solche Schilderungen insgesamt eigentlich weit eher für eine spätere Kriegsphase – etwa die des Jahres 1944 – zu erwarten gewesen“ (S. 11). Das immer mehr die Zivilbevölkerung drangsalierende, als „Bandenkampf“ bezeichnete Vorgehen gegen die Partisanen verwies die Kommandos der Einsatzgruppen zunehmend in die Grenzen ihrer beschränkten militärischen Fähigkeiten und damit auf die wenig ruhmreiche Rolle von Erkundern, Vernehmern und Henkern. Bemerkenswert erscheint, dass herausragende, die Spitzengliederung betreffende Vorfälle wie die schwere Verletzung und das nachfolgende Ableben des Führers der Einsatzgruppe A, Dr. Franz Walter Stahlecker, am 22./23. März 1942 im Zuge eines Gefechtes mit Partisanen in den Berichten überhaupt nicht erwähnt werden (vgl. dazu die betreffenden Abb. Nr. 12 u. 13, S. 316f.). EM Nr. 185 vom 25. März 1942 führt mit Verweis auf EM Nr. 179 vom 11. März 1942 Stahlecker noch als Kommandeur, während EM Nr. 186 vom 27. März 1942 ohne weiteren Kommentar bereits Heinz Jost als Chef der Einsatzgruppe A listet.

 

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen konstatieren die Herausgeber für die im RSHA aus den eingehenden Meldungen der vier in der Sowjetunion operierenden Einsatzgruppen und ihrer stationären Ableger zusammengestellten Meldungen „erhebliche Defizite bei der Abbildung der Realität“ und „für die Jahre 1942/43 zudem zahlreiche Lücken, die das Interesse eines möglichst einheitlichen, flächendeckenden Informationsflusses konterkarierten. […] Vielfach überwiegen in den Berichten aus dem RSHA nachrangige Details und langatmige Kommentare […]. Ein authentisches Bild der Lage und ihrer Entwicklungslinien sowie aussagekräftige Vergleiche zur Situation in den einzelnen Großregionen werden hinter einer Fülle von Einzelheiten oft kaum sichtbar. […] Mit zunehmender Kriegsdauer lesen sich die Berichte immer mehr wie Kompilationen von Sachwaltern deutscher Herrschaft, denen es weniger um den Nutzwert ihrer Meldungen für die Berliner Zentrale als um die Erhaltung ihrer Posten fernab der Front mittels Betonung ihrer Rolle im ungleichen ‚Bandenkampf‘ ging. […] Bis zuletzt behaupteten Sicherheitspolizei und SD im Rahmen ihrer Berichterstattung, grundsätzliche Kenntnis von der generellen Lageentwicklung zu besitzen, obwohl die zumindest partiell abhanden gekommen war. Gleichfalls wurde eine herausgehobene Bedeutung bei der ‚Bandenbekämpfung‘ suggeriert, obwohl die entscheidenden Befugnisse lange schon von anderen Instanzen übernommen worden waren“ (S. 15ff.). Diese interessensgeleiteten Umstände wird ein zukünftiger Nutzer bei der Interpretation des Materials zweifellos zu berücksichtigen haben.

 

Klaus-Michael Mallmann, bis 2014 wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, sein Nachfolger im Amt, Martin Cüppers, der Leiter der Forschungsabteilung am United States Holocaust Memorial Museum in Washington, Jürgen Matthäus, und Andrej Angrick, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, haben sich auch bemüht, die Benutzerfreundlichkeit ihrer verdienstvollen Edition zu steigern. Im Gegensatz zum ersten Band wurde der dritte nun mit dem wichtigen Ortsregister ausgestattet. Drei Karten veranschaulichen den territorialen Besitzstand an der gesamten Ostfront und im besetzten Gebiet am 18. November 1942 und in deren südlichem Abschnitt zwischen 27. Juni und 18. November 1942 sowie im Mai 1943. Bei der Erwähnung des Personenregisters ist darauf hinzuweisen, dass vornehmlich der Fußnotenapparat eine reiche Fundgrube biographischer Angaben zum Personal der Einsatzgruppen, aber auch zu den in deren Berichten erwähnten Persönlichkeiten bildet.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic