Der Lischka-Prozess – Eine jüdisch-französisch-deutsche Erinnerungsgeschichte. Ein BilderLeseBuch, hg. v. Klein, Anne unter Mitarbeit von Weißhaar, Judith. Metropol, Berlin 2013. 279 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.
Die Tatsache des stetigen Wandels zählt zu den Grunderfahrungen des Menschen und stellt eine gewichtige Vorgabe in der Arbeit des Historikers dar. Der Erkenntnis, dass jede Generation die Geschichte neu schreibt, sind wohl auch Publikationen jener Art zu verdanken, wie sie die vorliegende, recht heterogene Sammelschrift darstellt, die nun über drei Jahrzehnte nach dem Kölner Schuldspruch wegen der Beihilfe zum 73.000-fachen Mord gegen Kurt Lischka (10 Jahre Freiheitsstrafe), Herbert Hagen (12 Jahre) und Ernst Heinrichsohn (6 Jahre) aufgrund ihrer Rolle bei der Massendeportation jüdischer Menschen aus Frankreich von 1942 bis 1944 die Vorgänge um diesen NS-Prozess erneut thematisiert. Die in Köln und Bonn wirkende Herausgeberin, die Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin sowie Historikerin Anne Klein, die von allen in dem Band vertretenen Autoren die meisten Beiträge beisteuert, verweist in ihrer Danksagung auf ein von ihr geleitetes Forschungsprojekt der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zur Kölner Justiz nach 1945 und deren Umgang mit dem nationalsozialistischen Unrecht an den Juden, in dessen Rahmen sich auf einer interdisziplinären Tagung im November 2002 „ein Desiderat der Geschichtsforschung ab(zeichnete): Über den Lischka-Prozess 1979/1980 war relativ wenig bekannt, obwohl er einer der großen NS-Prozesse war. Er hat nicht nur eine Wende in der deutschen und in der französischen Erinnerungskultur herbeigeführt, sondern auch die Koordinaten jüdischer Selbstrepräsentation im ‚Gedächtnisraum Europa‘ (Natan Sznaider) grundlegend verändert. Viele Akteure, die damals die juristische Ahndung der Shoah in Frankreich in der Bundesrepublik vorangetrieben oder aus der Distanz beobachtet hatten, haben dieses BilderLeseBuch inspiriert“ (S. 277). Im Zentrum der vorliegenden Publikation stehe „das Bemühen um eine Neubewertung der jüdischen Überlebenden und ihrer Kinder“, die aktiv ihre „Anerkennung als Subjekte der Geschichte“ (S. 16) eingefordert hätten. Methodisch lasse die Mischung aus wissenschaftlichen Beiträgen und Zeitzeugenberichten eine „collagenartige Mindmap“ entstehen, „die das Verständnis verschiedener Wahrnehmungsweisen ermöglichen soll“, sodass man schließlich „wie durch ein Kaleidoskop einen Einblick in Situationen und Ereignisse ebenso wie in persönliche Erinnerungen und juristische Hintergründe gewinnen“ könne (S. 19). Von den Hintergründen des Lischka-Prozesses führt denn auch der Weg den Leser über die historischen Akteure hin zum Prozessgeschehen und zur Erinnerung an dieses.
Versucht man das vielfältige, auf einen intuitiven Zugang zugeschnittene Material zu systematisieren, ergeben sich unterschiedliche Sachgruppen. An erster Stelle seien hier die wissenschaftlich-analytischen Beiträge genannt, die historischen, juristischen und medialen Fragestellungen nachgehen. So handelt zunächst der Historiker Ralph Jessen über „Die siebziger Jahre als geschichtspolitische Inkubationszeit“, in der „die Ost-West-Entspannung es leichter (machte), die ungesühnten NS-Verbrechen jenseits stereotyper Vorwürfe und Abwehrreflexe […] zu thematisieren“ und „der Politisierungs- und Mobilisierungsschub der späten sechziger und die ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ der siebziger Jahre die politische Kultur der Bundesrepublik verändert (hatten)“ (S. 33). Der Kriminologe Frank Neubacher plädiert unter dem Titel „Was hat die Justiz Verbrechensopfern zu bieten? Eine viktimologische Perspektive“ dafür, die Stimmen der Opfer von Straftaten verstärkt wahrzunehmen. Rechtshistorisches Terrain beackert der Aufsatz des Strafrechtlers Ingo Müller über die „Rechtspolitische(n) Rahmenbedingungen des Lischka-Prozesses“, der das Verfahren in den allgemeinen Kontext der bundesdeutschen Ahndung von NS-Verbrechen einbindet und dabei unter anderem über eine „unwillige Justiz“, eine „täterfreundliche Gesetzgebung“ und ein „Strafvereitelungskartell“ berichtet, als dessen Zentralfiguren Juristen wie Ernst Achenbach, Hans Gawlik oder Eduard Dreher auf parlamentarischer und auf Regierungsebene die Strafverfolgung von NS-Tätern hintertrieben. Unter welch ernüchternden Bedingungen auch die Arbeit der Ermittler vonstattenging, zeigt der Historiker Bernhard Brunner: „30 Jahre Ermittlungen und drei Verurteilungen. Die Geschichte des ‚Frankreich-Komplexes‘“ ist sein Beitrag überschrieben, der zum Schluss gelangt: „Aus heutiger Sicht ist das Verhältnis von Aufwand und Ertrag miserabel, waren die Ermittlungen zu langwierig und viele Vernehmungen zu wenig zupackend. Doch aus der Perspektive der 1970er-Jahre, in denen noch der Wunsch dominierte, die NS-Taten zu verdrängen und die Täter zu beschweigen, ist es geradezu erstaunlich, dass das Verfahren nicht versandete wie so viele andere“, was „Juristen wie R[o]lf Holtfort oder […] Herbert Schneider“ zu verdanken sei, „die diese Ermittlungen mit großem persönlichen Einsatz vorantrieben“ (S. 89). Das emanzipatorisch geprägte Eintreten der jüdischen Überlebenden und ihrer Nachkommen für die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wiederum kommt in gleich zwei Beiträgen Anne Kleins zur Sprache, nämlich in „‘Militants de la Mémoire‘. Repräsentationen jüdischen Engagements in den 1970er-Jahren“ (Auszüge aus ihrem gleichnamigen, 2008 veröffentlichten Aufsatz) und in „Prendre la parole – Das Wort ergreifen. Jüdische Stimmen im deutsch-französischen Erinnerungsdiskurs der 1970er-Jahre“. In letzterem ist zu lesen: „Das Engagement des Ehepaars Klarsfeld und der jüdischen Organisation Fils et Filles des Déportés Juifs de France [= F. F. D. J. F.] hat maßgeblich zur Justierung der ‚moralischen Grammatik‘ der Erinnerungskultur in Deutschland und auch in Frankreich beigetragen. […] Ein Strafprozess gegen Täter schafft, auch in seiner Begrenztheit, die Möglichkeit für Gerechtigkeit. Erst danach konnten in der Gesellschaft die Geschichten der jüdischen Opfer der Shoah öffentliches Gehör und eine entsprechende Anerkennung finden. Eine derart aufklärerische Funktion für die öffentliche Erinnerungskultur hatte auch der Lischka-Prozess“ (S. 238). Mediale Reflexe auf Vorgeschichte und Ablauf des Verfahrens skizzieren Jens Tanzmann („Vom ‚Beate-Klarsfeld‘- zum Lischka-Prozess. Wie die Aktionen der Klarsfelds und der F. F. D. J. F. die Berichterstattung in der Kölner Presse veränderten“) und Raphaela Häuser („Die ‚Rache Nazi-Deutschlands‘? Frankreichs Deutschlandbild im Spiegel der Presseberichterstattung zum Fall Lischka“).
Neben dieser Gruppe analytischer Beiträge stehen Abschnitte primär orientierender und informativer Natur, wie Anne Kleins Zusammenfassung zur „Verfolgung und Deportation der Juden aus Frankreich“ und ihre gemeinsam mit Martin Rapp und Judith Weißhaar zusammengestellte „Chronologie des Protests. Der Lischka-Prozess in Köln 1979/80 und seine Vorgeschichte“. Als Zeitdokumente für die angeklagten Straftaten finden sich Georges Wellers‘ „Bericht eines Arztes über die Situation der jüdischen Kinder, die im Vélodrome d‘Hiver interniert waren“ und vier amtliche deutsche Schriftstücke aus 1942, welche die Verantwortung der Beschuldigten für die Judendeportationen aus Frankreich belegen. Der überwiegende Teil der Beiträge des Bandes trägt jedoch in einem weiten Sinne biographischen Charakter, indem Persönlichkeiten im Fokus des Interesses stehen, an die eine Annäherung über verschiedene Wege erfolgt: beschreibend, interviewend, in Form von Reminiszenzen oder über fotografisches Material. Auf diese Art erfasst werden die drei NS-Täter Lischka, Hagen und Heinrichsohn sowie ihre Entlastungszeugen, vor allem aber jene, die durch ihren Einsatz eine Anklage und Verurteilung erst möglich machten: Beate und Serge Klarsfeld, der Kameramann Harry Zwi Dreifuss, Thomas Harlan, Staatsanwalt Rolf Holtfort und die große Zahl an Zeugen, die in dem Verfahren auf Seiten der Anklage aussagten.
Erklärungsbedürftig ist, weshalb sich kein authentisches Aktenmaterial zum eigentlichen Prozessgeschehen – etwa Urteil und Begründung – abgedruckt findet, selbst das betreffende Aktenzeichen konnte der Rezensent in dem Band nicht ausmachen. Knappe Informationen finden sich lediglich in Form eines schmalen Auszugs aus dem Anklagesatz des Staatsanwalts (S. 93f.) und von Kurzzitaten aus den Aussagen der Zeugen (S. 43ff.). Wie wenig bislang Unbekanntes dieser Band letztendlich auch zutage fördern mag, so inspirierend ist doch die Vielfalt seiner Zugänge, die eine Annäherung ermöglicht an die seinerzeitige politische und emotionale Aufladung eines Geschehens, das aus heutiger Sicht bereits als historisiert gelten kann. Dies über eine Druckschrift zu erreichen, ist allemal eine bemerkenswerte Leistung.
Kapfenberg Werner Augustinovic