Der Kreml und die „Wende“ 1989, hg. v. Karner, Stefan/Kramer, Mark/Ruggenthaler, Peter/Wilke, Manfred u. a. (= Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Sonderband 15). StudienVerlag, Innsbruck 2014. 708 S., Abb. Besprochen von Gerhard Köbler.
Im Jahre 1989 änderte sich die Politik in weiten Teilen der Welt dadurch, dass der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs ohne ausdrückliche Erklärung begonnene kalte Krieg zwischen der Sowjetunion sowie den ihr folgenden Staaten und den westlichen Alliierten und den ihnen folgenden Staaten beendet wurde. Als wichtigste Grundlagen hierfür nennen die vier Hauptherausgeber in ihrem kurzen Vorwort die polnische „Solidarność, die Aufrüstung der Vereinigten Staaten von Amerika unter Präsident Ronald Reagan, die Öffnung Ungarns, Papst Karol Wojtyła, den wirtschaftlichen Niedergang der sowjetischen und osteuropäischen Wirtschaften und schließlich vor allem die Politik von Perestrojka und Glasnost Michail Gorbatschows. Wer immer Gorbatschow mit den vorangehenden Sowjetführern oder mit dem nachfolgenden Präsidenten Wladimir Putin vergleicht, wird ihm vielleicht die entscheidende Ursächlichkeit für die Wende beimessen müssen, die Russland anscheinend bisher kaum zu besonderem Vorteil gereicht hat.
Damit jedem Interessierten eine eigene Stellungnahme hinsichtlich des Verhältnisses der Führung der Sowjetunion zu den Vorgängen des Jahres 1989 leichter möglich ist, haben sich das Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung, das Davis Center for Russian and Eurasian Studies der Harvard University, das russische Staatsarchiv für Zeitgeschichte, die Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität und die russische Akademie der Wissenschaften zu einem Kooperationsprojekt zusammengeschlossen. Nach zweijähriger Forschungstätigkeit mit vier Konferenzen zwischen Mai/Juni 2012 und Ende des Jahres 2014 stellt der vorliegende Band ein dabei entstandenes Ergebnis der Allgemeinheit zur Verfügung. Um die Sicht des Kremls bezüglich der Umwälzungen in seinem Einflussbereich in Mittelosteuropa darzustellen, versammelt das Werk unter 99 Nummern wichtige, weitgehend bisher nicht zugängliche Dokumente, von denen 59 aus den Beständen des Archivs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion stammen, das in der Gegenwart den Namen russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte trägt.
In diese gewichtige, durch Anmerkungen, eine Chronologie vom 11. März 1985 (Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU) bis 29. Dezember 1989 (Wahl Václav Havels zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakeis), biographische Skizzen (von Adamec über Gorbatschow bis Živkov) und ein Personenregister sowie ein Ortsregister abgerundete Dokumentation leiten die vier genannten Herausgeber umsichtig ein, indem sie von der Begegnung Gorbatschows und George H. W. Bush auf einem Kriegsschiff in Malta am 3. Dezember 1989 ausgehen, das betroffene Geschehen mit Abbildungen von der symbolischen Öffnung des eisernen Vorhangs mittels Drahtscheren durch Alois Mock und Gyula Horn, von der Begegnung zwischen Papst Paul Johannes II. und Lech Wałesa und vom Fall der Mauer in Berlin in der Nacht vom 9. auf den 10. November illustrieren, den Stand der Forschung und die Quellenlage schildern, die Ausgangslage darlegen, die „freiwillige“ Machtaufgabe der Kommunisten in Polen nach der Zahlungsunfähigkeit der Jahre 1987/1988, die Öffnung Ungarns, die friedliche Revolution in der Deutschen Demokratischen Republik, die „Palastrevolte“ in Bulgarien und die einzelnen weiteren Vorgänge sachkundig darstellen. Im Ergebnis sehen sie neben der Kombination von Reformen von oben und Druck von unten den Grund für die Ermöglichung der Wende in einer glücklichen personellen Konstellation der Staatschefs. Dementsprechend beginnen die in die deutsche Sprache übertragenen Dokumente mit der Rede Gorbatschows vor den Parteiführern der „Bruderstaaten“ in Moskau am 18. Februar 1985 und enden mit Tagebucheinträgen Tejmuraz Stepanov.Mamaladzes vom 24. bis 31. Dezember 1989 (So war das Jahr: wie 1789, 1848 oder 1917) und zeigen ansprechend, dass die Wende in erster Linie deswegen möglich war, weil die Politik der Sowjetunion (in der Person Michail Gorbatschows) sich geändert (oder „gewendet“) hatte.
Innsbruck Gerhard Köbler