Der Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur, Band 4 Prozessrecht, hg. v. Mausen, Yves/Condorelli, Orazio/Roumy, Franck u. a. (= Norm und Struktur – Studien zum sozialen Wandel in Mittelalter und früher Neuzeit, Bd. 37/4), Böhlau, Köln 2014. XVIII, 361 S. Besprochen von Steffen Schlinker.

 

Auf gewohnt hohem Niveau hat sich eine Reihe hochkarätiger europäischer Rechtshistoriker erneut mit dem Einfluss der Kanonistik auf die europäische Rechtskultur beschäftigt und sich auf einer Tagung im Jahr 2011 im Kloster Royaumont bei Paris dem Prozessrecht gewidmet. Erwartungsgemäß kann der Band, der 15 Einzelbeiträge vereinigt, mit reichhaltigen Ergebnissen aufwarten. Im Mittelpunkt der Erörterungen stehen einzelne Aspekte des Richteramts und der Rechtsbehelfe, zeitlich liegt der Schwerpunkt im hohen und späten Mittelalter. Im Folgenden sollen die durchweg profunden Beiträge jeweils kurz vorgestellt werden.

 

Zu Beginn widmet sich Luca Loschiavo dem Verfahrensrecht im Werk Isidors von Sevilla und kann hier christliche, römische und westgotische Traditionen feststellen (S. 1-19). Andrea Padovani untersucht die Argumentation der Autoren der „ordines iudiciarii“ des 12. und 13. Jahrhunderts und die Verwendung dieser Werke durch die zeitgenössischen Gelehrten (S. 21-43). Oliver Descamps analysiert die Quellen der Dekretale „Saepe contingit“, in der die Praxis des summarischen Verfahrens eine rechtliche Fassung erhielt (S. 45-63). Orazio Condorelli thematisiert den von den Zeitgenossen hochgelobten „Tractatus de accusationibus et inquisitionibus“ aus der Zeit um 1350 (S. 65-90). Harry Dondorp untersucht die Schwierigkeiten, aus dem „petitum“ auf das präzise Klagebegehren schließen zu können (S. 91-112). So verlangte zwar der Kläger in der Regel, dass ihm Recht geschaffen werde, doch bleibt auf der Basis der „ordines“ weitgehend unklar, ob sich die Klage auf Erfüllung oder auf Schadensersatz richtete.

 

David von Mayenburg beschäftigt sich mit dem „officium judicis“, das als „officium iudicis mercenarium“ die richterlichen Handlungsmöglichkeiten im Rahmen eines ordentlichen Prozesses umschrieb, dagegen als „officium judicis nobile“ ein selbständiges Tätigwerden des Richters im öffentlichen oder privaten Interesse ermöglichte (S. 113-138). Insofern konnte die Anrufung des „officium iudicis“ einerseits Rechtsbehelf sein, andererseits eröffnete es dem landesherrlichen Richter in der Frühen Neuzeit die Möglichkeit, Untertanen, insbesondere abhängigen Bauern, gegenüber intermediären Gewalten Rechtsschutz zu gewähren. Yves Mausen widmet sich der Problematik einer Instruktionspflicht der Parteien und daran anschließend der Beweispflicht im Prozess (S. 139-155). Antonia Fiori fragt, inwieweit der Lebenslauf und die Lebensweise des Angeklagten unter objektiven („infamia facti“) und subjektiven Gesichtspunkten (Schuldfähigkeit) im Prozess berücksichtigt werden konnten (S. 157-172). Hans-Georg Hermann analysiert das „iuramentum perhorrescentiae“ und mithin die Funktionen und die Voraussetzungen der Richterablehnung (S. 173-207). Marie-Clothilde Lault beschäftigt sich mit dem Phänomen des Wiederholungstäters, insbesondere im Fall wiederholter Häresie (S. 209-229).

 

Franck Roumy kann in seinem Beitrag unter Hinweis auf die Formel des „complementum iustitiae“ eine bisher kaum beachtete Rechtsfigur vorstellen, die vornehmlich dazu diente, ein Verfahren einzuleiten oder einen Rechtsweg zu eröffnen und somit auch neben der Appellation zur Überprüfung einer Entscheidung dienen konnte (S. 231-251). Mathias Schmoeckel beschäftigt sich mit der Bedeutung der Kirchenväter für das Richteramt und das Rechtsinstitut der Appellation und legt damit die antiken Wurzeln des kanonischen Prozessrechts offen (S. 253-284). Anne Lefebvre-Teillard thematisiert das Rechtsmittel „a gravamine“, das einer Partei erlaubte, noch vor einem Urteil eine Appellation einzulegen (S. 285-305). Peter Landau fragt nach dem Einfluss des kanonischen Rechts auf das sächsische Prozessrecht und verweist für das Rechtsinstitut der „leuteratio“ auf spezifische Anregungen des kanonischen Rechts (S. 307-324). Schließlich widmet sich Anthony Musson dem Einfluss des kanonischen Rechts auf Gerichtsbarkeit und Prozessverfahren im spätmittelalterlichen England (S. 325-343). Er kann insbesondere die Schiedsgerichtsbarkeit neben der chancery als Brücke für das kanonische Recht und seine Prinzipien nachweisen.

 

Wie seine Vorgänger besticht auch der vierte Band durch seine tiefsinnigen Beiträge, die eine Fülle neuer Einsichten schenken. Angesichts der schleichenden Marginalisierung des Kirchenrechts im Bewusstsein der Juristen gebührt den Autoren größter Dank, die grundlegende Bedeutung des kanonischen Rechts für die europäische Rechtskultur und die europäische Lebensweise so eindrucksvoll vor Augen gestellt zu haben. In den einzelnen Beiträgen geht es zwar jeweils um die präzise Analyse spezifischer Probleme. Im Wesentlichen stehen jedoch die folgenden – für die westliche Rechts- und Gesellschaftsordnung - grundlegenden Themen im Mittelpunkt: Die friedliche Streitbeilegung im Gerichtsverfahren, die richterliche Unabhängigkeit gegenüber den Parteien, die Bindung an das Recht und die Orientierung der Entscheidung am Maßstab der Gerechtigkeit, die Vermeidung von Willkür durch Rechtsbehelfe sowie die Vielfalt (auch rechtlicher) Ideen und Ansichten. So sind den einzelnen Beiträgen für zukünftige Forschungen vielfältige Anregungen zu entnehmen. Eine Fortsetzung des Unternehmens kann nur gewünscht werden.

 

Würzburg                                                                Steffen Schlinker