Das Reichsjustizministerium und die höheren Justizbehörden in der NS-Zeit (1935-1944) – Protokolle und Mitschriften der Arbeitstagungen der Reichsjustizminister mit den Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Volksgerichtshofs, des Reichsgerichts sowie mit den Generalstaatsanwälten, eingeleitet und hg. v. Schubert, Werner (= Rechtshistorische Reihe 455). Lang, Frankfurt am Main. 2015. L, 642 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Während es Aufgabe der Politik ist, die Rechtswirkung jener Rechtsakte, die nach nationalsozialistischer Rechtsanschauung Recht, nach landläufiger Auffassung und den allgemein anerkannten Grundlagen eines liberal-demokratischen Rechtsverständnisses aber gravierendes Unrecht darstellen, durch gesetzliche Regelungen außer Kraft zu setzen, obliegt es dem Rechtshistoriker, im Vorfeld durch akribische Forschungen die seinerzeitigen Veränderungen im Rechtssystem zu ergründen, zu belegen und nachvollziehbar darzustellen. Dabei genügt es nicht, allein die Rechtsnormen und ihre Anwendung in den Blick zu nehmen; von nicht minderer Bedeutung ist das Offenlegen der rechtspolitischen Ziele, die dem Normensystem zugrunde liegen und die in den Bemühungen um dessen Umgestaltung und Neugestaltung zutage treten. Es ist daher von elementarem Interesse, dass möglichst viele einschlägige Textmaterialien gesichtet, dem Dunkel der Archive entrissen, geschlossen versammelt und - im Optimalfall auch kommentiert - publiziert werden.

 

Der 1936 in Schlesien geborene Werner Schubert, der von 1977 bis 2001 an der Universität Kiel Rechtsgeschichte der Neuzeit, Römisches Recht, Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht gelehrt hat, hat sich lange Jahre dieser Aufgabe verschrieben und bereits eine Vielzahl von Editionen auf den Weg gebracht, darunter die bis dato auf 22 Bände angewachsene Edition der Protokolle der Ausschüsse der Akademie für Deutsches Recht 1933-1945 (1986ff.). Der vorliegende Band widmet sich der (in Teilen gekürzten) Herausgabe der unvollständig überlieferten Protokolle und Mitschriften jener Arbeitstagungen, die mit der Verreichlichung der Justiz 1935 von den Reichsministern der Justiz Franz Gürtner (9 Treffen zwischen dem 3. 4. 1935 und dem 24. 10. 1939), seinem kommissarischen Nachfolger Franz Schlegelberger (7 Treffen zwischen dem 20. 3. 1941 und dem 30. 6./1. 7. 1942) und Otto Georg Thierack (6 Treffen zwischen dem 29. 9. 1942 und dem 23./24. 8. 1944) bis 1944 zum Zweck der Lenkung der Rechtsprechung und der Sicherung der Einheitlichkeit der Justizverwaltung abgehalten wurden. Zu diesen Besprechungen geladen waren zunächst die Generalstaatsanwälte, gegebenenfalls auch der Oberreichsanwalt und die Oberstaatsanwälte, ab 1936 auch die „Chefpräsidenten“ (die Präsidenten des Reichsgerichts, des Volksgerichtshofs und der Oberlandesgerichte) sowie weiteres, für die diskutierten Materien kompetentes staatsanwaltschaftliches und richterliches Personal (z. B. Vorsitzende der für Rasseschutzsachen zuständigen Strafkammern, Vorsitzende von Sondergerichten und die Sachbearbeiter für Sondergerichtsstrafsachen bei den Generalstaatsanwälten, Jugendrichter). Neben Referenten des Ministeriums wie Freisler und Crohne finden sich unter den Vortragenden auch Vertreter der Geheimen Staatspolizei und der spätere Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Reinhard Heydrich (S. 25), sowie die „Euthanasie“-Experten Viktor Brack und Professor Werner Heyde (S. 181ff.). Diese Personalia offenbaren die von Anfang an enge Zusammenarbeit der Spitzen der Justiz mit dem Exekutivsektor und das Wissen um die Verbrechen des Regimes. Zu den „Euthanasie“-Referaten vom 23. 4. 1941 und der dort thematisierten Verwaltung der Krankenmorde hielt der Kölner Oberlandesgerichtspräsident Bergmann in seinen Notizen unter anderem stichwortartig fest: „Patienten in Zwischenanstalten, nochmalige Beobachtung. Alsdann in Liquidationsanstalten, die von der Umwelt weitgehend abgeschlossen sind. Patient stirbt an fingierter Todesursache; Grund Geheimhaltungsgebot des Führers. Sterbeurkunde. Datum und Todesursache stimmen nicht. Daneben wird aber ein wahres Standesregister geführt. Jetzt wird der Nachlaß genau registriert, um den es den Angehörigen zumeist zu tun ist. In 80 % der Fälle sind Angehörige einverstanden; 10 % protestieren, 10 % sind gleichgültig“ (S. 182f.).

 

Somit liefert das edierte Material nicht nur eine Vielzahl an Informationen zur Genese von Gesetzgebungsvorhaben und zum Justizalltag, sondern darüber hinaus auch zu grundsätzlichen historischen Fragen. Aus österreichischer Perspektive von Interesse sind beispielsweise die Ausführungen über den protegierenden Umgang der reichsdeutschen Behörden mit aus Österreich geflohenen NS-Aktivisten. Über die Behandlung österreichischer Auslieferungsbegehren wurde vertraulich verlautbart: „Jedes Auslieferungsersuchen sei zunächst an den Stellvertreter des Führers zu leiten, ob die Auslieferung erwünscht sei. Von Seiten der Staatsanwaltschaft sei der ersuchenden österreichischen Behörde keine Mitteilung über den Aufenthalt des Gesuchten und über seine evtl. Festnahme zu machen. Diese sei vielmehr unverzüglich […] an das Justizministerium zu leiten“ (S. 7). Auf die Flüchtlinge seien überdies „folgende Grundsätze anzuwenden: […] Haben sie bei der Flucht ohne Pass oder Ausweispapiere die Grenze überschritten, so soll von der Verfolgung wegen Passvergehens abgesehen werden. Sie sind […] auch nicht in Haft zu nehmen; die weitere Verfolgung ist nach § 153 Abs. 2 oder 3 StPO einzustellen. Bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren ist wegen eines Gnadenerweises zu berichten“. Allerdings sei doch „darauf Bedacht zu nehmen, dass sich nicht Verbrecher unter Berufung auf die Flüchtlingseigenschaft der Strafe entziehen“ (S. 14).

 

Da der inhaltliche Wert der hier publizierten Texte außer Frage steht, seien einige Anmerkungen zur Edition gestattet. Der Herausgeber stellt dem Nutzer eine Reihe nützlicher Instrumente und Hilfsmittel zum Verständnis des Inhalts zur Verfügung. Dazu zählen seine editorischen Vorbemerkungen, Kurzbiographien der Ressortleiter Gürtner, Schlegelberger und Thierack sowie ihrer Staatssekretäre Freisler und Rothenberger, eine elfseitige Zusammenstellung jener vom NS-Staat verabschiedeten Normen, welche die Aushöhlung des Rechtsstaates legistisch vollzogen, und jeweils systematische Auflistungen der amtierenden Oberlandesgerichtspräsidenten, Generalstaatsanwälte und Präsidenten der Obersten Gerichte (Reichsgericht, Volksgerichtshof) mit den zugeordneten Oberreichsanwälten. Im Anhang finden sich zusätzlich biographische Daten zu einigen Referenten, ferner eigene Register der Redner und Referenten (die, aus welchen Gründen auch immer, leider nicht vollständig sind und auch die oben erwähnten, namhaften Vortragenden Heydrich, Brack und Heyde unterschlagen) und - im Dienst der Nachsuche besonders zu begrüßen – ein detailliertes Sachregister. Vorbildlich dokumentiert sind die Fundorte der hier edierten Texte im Quellennachweis, der neben Veröffentlichungen der „Deutsche(n) Justiz“ (DJ) Material aus Archiven in Berlin, München, Weimar, Münster und Hamburg so verzeichnet, dass ein problemloses Auffinden der Originale jederzeit möglich ist.

 

All diese verdienstvollen Hinweise können aber nicht die Funktion eines umfassenden historisch-kritischen Kommentars übernehmen, dessen ein weniger sachkundiger Leser wohl bedürfte. Dem Herausgeber ist dies durchaus bewusst, wenn er einleitend bedauernd festhält, dass „eine detaillierte Erschließung der Beratungsgegenstände […] in der vorliegenden Edition nicht möglich“ sei (S. XIVf.). Dadurch werden aber auch Fehler, die bereits in den Quellen auftreten, nicht so korrigiert, dass sie ein unbedarfter Nutzer als solche wahrnehmen kann. So enthält beispielsweise bereits das Inhaltsverzeichnis unter A:III.2. (Arbeitstagung vom 29. 11. 1935) den Hinweis auf einen „Auszug aus dem Referat von Karl Deluege“, der dann auf S. 20ff. - unter Nennung desselben Namens - wiedergegeben ist. Der Betreffende taucht ferner im Register der Redner und Referenten (S. 633) und auch in den Kurzbiographien (S. 629) auf, wo er als „Chef der deutschen Polizei im Reichsinnenministerium“ betitelt wird. Nun hat es aber eine Person dieses Namens in dieser Position tatsächlich nie gegeben. Es handelt sich vielmehr um eine zeitgenössische, hier in den Hilfsmittelapparat übernommene, mehrfache Verschreibung des nicht ganz unbekannten Chefs der Deutschen Ordnungspolizei und Stellvertreters Heinrich Himmlers in der vorhin erwähnten Funktion, Kurt Daluege. Wiewohl eine Marginalie, könnte man auch zu der angesichts des heute verwendeten Ortsnamens Cochem womöglich unrichtig erscheinenden Schreibung der „Reichsburg Kochem“ (S. 591) erläuternd ergänzen, dass hier in der NS-Ära 1935 eine Umbenennung erfolgte, die später wieder revidiert wurde, wohingegen die bereits 1926 verfügte Umschreibung von „Coblenz“ zu Koblenz Bestand hat. Eine derartige, in den Rechtsmaterien noch weit komplexere Kontextualisierung mittels eines entsprechenden Anmerkungsapparates wäre also durchaus im Sinne der Sache, wenn auch die Einschätzung des dafür erforderlichen, zusätzlichen Aufwandes wenig Hoffnung auf eine Realisierung macht.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic