Cline, Eric H., 1177 v. Chr. Der erste Untergang der Zivilisation, aus dem Englischen v. Hartz, Cornelius. Theiss, Darmstadt 2015. 336 S., 11 Abb., 2 Tab. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Wie der Aufstieg von Kulturen, verlangt auch deren Untergang nach schlüssigen Erklärungen. Je ferner uns ein solcher Vorgang zeitlich liegt, desto problematischer ist es im Allgemeinen, Quellen auszumachen, die eindeutige, klare Aussagen zulassen, desto spekulativer wird das Bild, das wir uns von ihm machen können. Die Ereignisse, auf die der vorliegende, 2014 für den renommierten Pulitzer-Preis nominierte Band Bezug nimmt, trafen Mykener, Minoer, Hethiter, Assyrer, Kassiten, Zyprer, Mitanni, Kanaaniter und Ägypter, liegen mehr als 3000 Jahre zurück und sollen doch, geht es nach seinem Verfasser, Parallelen zur unmittelbaren Gegenwart aufweisen.

 

Als gesichert gilt, dass um 1200 v. Chr. die blühenden bronzezeitlichen Kulturen des östlichen Mittelmeerraums, Ägyptens und Kleinasiens bis ins Zweistromland und nach Anatolien durch gewaltsame Umwälzungen erschüttert wurden, die zu ihrem raschen Niedergang führten. Zugeschrieben wurde dieser Zusammenbruch lange pauschal dem Einfall sogenannter Seevölker, von denen in ägyptischen Quellen berichtet wird, die aber bis heute, was ihre geographische Herkunft und ihre ethnische Zuordnung angeht, nicht eindeutig identifiziert werden konnten. Dank Inschriften Pharao Ramses‘ III. ist bekannt, dass die Ägypter als einzige der zeitgenössischen Mächte 1177 v. Chr. (wie zuvor schon 1207 v. Chr. unter Pharao Merenptah) die Seevölker in der Schlacht besiegen und fortan auch von Ägypten fernhalten konnten; an dem oben geschilderten, allgemeinen Niedergang im ägäisch-kleinasiatischen Raum und dem Machtverlust Ägyptens vermochte dieser militärische Erfolg indessen nichts zu ändern. „In riesigen Gebieten, von Griechenland bis nach Mesopotamien, gingen viele, wenn nicht sogar alle zivilisatorischen Fortschritte der vergangenen Jahrhunderte verloren. Eine neue Epoche des Übergangs begann, die mindestens 100, in manchen Regionen vielleicht sogar 300 Jahre dauerte“ (S. 33). Das im Titel gleichsam als „Epochenjahr“ hervorgestrichene Datum 1177 v. Chr. versteht sich demnach natürlich als ganz bewusste Zuspitzung auf ein Einzelereignis, das als eingängiges Symbol eine tatsächlich deutlich längere Phase des Umbruchs markiert.

 

Für den 1960 geborenen Eric H. Cline, Direktor des Archäologischen Instituts an der George Washington Universität in Washington DC und Ko-Direktor bei verschiedenen Ausgrabungsprojekten in Israel, steht fest, dass ein solches, an den Seevölkern festgemachtes, monokausales Erklärungsmodell zu kurz greift. Denn im Fazit sei die schlichte Wahrheit: „Zweifellos kam es um die Wende vom 13. zum 12. Jahrhundert v. Chr. […] zu massiven Zerstörungen, doch wer dahintersteckte, wissen wir nicht. […] Was das Ende dieses Zeitalters betrifft, so könnte durchaus mehr dahinterstecken als die Verwüstungen einer Bande umherziehender Marodeure […]. Früher gab die Forschung ihnen gerne die Alleinschuld […], dabei könnte es durchaus sein, dass die Seevölker ebenso sehr Opfer wie Täter waren“ (S. 198f.). Opfer nämlich „eine(r) ganze(n) Serie von Katastrophen“ (so der Titel des fünften und abschließenden Kapitels), die Cline einzeln kritisch referiert (genannt werden Erdbeben, durch einen Klimawandel bedingte Hungersnöte, Rebellionen im Inneren, Eindringlinge oder Zuwanderer sowie die Unterbrechung internationaler Handelsrouten) und auf ihr Potential zur Erklärung des damaligen allgemeinen Niedergangs der bronzezeitlichen Kulturen abklopft, mit dem nicht überraschenden Ergebnis, dass „keine davon als alleinige Ursache ausgereicht (hätte)“. Doch „anders sah es aus, wenn [die Bewohner einer bestimmten Region] in rascher Folge unter Erdbeben, Dürre und einer ausländischen Invasion zu leiden hatten. Was folgte, war ein Dominoeffekt, bei dem der Zerfall einer Zivilisation den Untergang der nächsten nach sich zog. Die Welt der späten Bronzezeit war in einem Maße globalisiert, dass sich bereits der Zusammenbruch nur einer Kultur folgenschwer auf die internationalen Handelsrouten und Volkswirtschaften ausgewirkt hätte und ausreichend gewesen wäre, um mehrere andere Gesellschaften mit in den Untergang zu reißen. Und dabei hätte es keine Rolle gespielt, wie groß und mächtig ein einzelnes Reich war“ (S. 235f.).

 

Um dieses zwar plausible, ihm dennoch aber noch zu simpel erscheinende Erklärungsmodell eines Systemkollapses weiter zu unterfüttern, bedient sich der Verfasser der ursprünglich in der Mathematik und der Informatik entwickelten Komplexitätstheorie, die Phänomene untersucht, die sich in der Interaktion komplexer Systeme beobachten lassen. Als komplexe sozio-politische Systeme seien auch die spätbronzezeitlichen Königreiche, Imperien und Gesellschaften im genannten Raum dynamischen Wechselwirkungen unterworfen gewesen, wobei hier wie generell mit der Zunahme der Komplexität zugleich die Anfälligkeit für einen Zusammenbruch gestiegen sei. Ein Problem sei, dass man selbst bei detaillierter Kenntnis aller Einzelheiten nicht vorhersagen könne, wann ein solches durch seine Vernetzung instabiles komplexes System nun tatsächlich versage. Beispiele vom Verkehrsstau über die Folgen von Energieengpässen bis hin zum Börsencrash, die die Verwundbarkeit unserer heutigen globalen Ordnung zeigen, sollen die Zeitlosigkeit und Aktualität des Phänomens veranschaulichen. Aber selbst die Gewissheit, die dieses Erklärungsmodell auf den ersten Blick suggeriere, sei trügerisch, denn es könne beim derzeitigen Wissensstand durchaus auch sein, dass die Komplexitätstheorie in Bezug auf den Kollaps der bronzezeitlichen Kulturen „lediglich einen wissenschaftlichen (möglicherweise sogar nur pseudowissenschaftlichen) Begriff auf eine Situation“ anwende, „über die wir schlichtweg nicht genügend wissen, um überhaupt irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen zu können“. Sie könne aber zweifellos „dabei helfen, sich einen entsprechenden nicht-linearen Ablauf der Dinge vorzustellen, mit vielen Stressfaktoren anstatt nur einem einzigen“, und dabei nützen, „neue Ansatzpunkte zu finden, um diese Katastrophe noch weiter zu untersuchen“ (S. 242f.).

 

Fasst man die Kernaussage des Bandes zusammen, so bricht er in Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand der Forschung allgemein eine Lanze für eine angemessene Zurückhaltung vermeintlichen Gewissheiten gegenüber und für die Anwendung polykausaler Erklärungsmodelle in der Geschichtswissenschaft. So richtig und wichtig dieser Gedanke ist, so sehr zählt er aber auch zu den wohlbekannten Grundwahrheiten der Disziplin, denn seit jeher vollzieht sich historische Forschung speziell dort, wo endgültige Gewissheit in Ermangelung aussagekräftiger Quellen nicht zu gewinnen ist, in einem dialektischen Prozess der Gegenüberstellung von Thesen und Antithesen, die letztendlich in der Kombination in ein synthetisches Ergebnis münden, in einen Näherungswert, dem im Konsens die größte Wahrscheinlichkeit im Hinblick auf die Erkenntnis des tatsächlichen Gangs der Dinge zugebilligt wird. Wie es tatsächlich gewesen (um es mit Ranke zu sagen), weiß man damit dennoch nicht, bestenfalls, welche Schlüsse die verfügbaren Indizien im Licht der angewandten Interpretationsmodi am ehesten nahelegen. Der Verfasser expliziert das unter anderem an so berühmten Beispielen wie den Fragen nach der Historizität des Trojanischen Krieges oder des israelitischen Exodus aus Ägypten.

 

Aspekte der Rechtskultur spielen in der Arbeit eine untergeordnete Rolle. An einer Stelle stößt der Leser auf einen allgemeinen Hinweis auf den Gesetzeskodex des babylonischen Königs Hammurabi, „in dem sich zum ersten Mal in der Literatur die Phrase ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ findet, die später durch die Bibel Berühmtheit erlangte“ (S. 45). Ergiebiger fällt lediglich die Schilderung einer Begebenheit im Zusammenhang mit dem allen Anschein nach gewaltsamen Ableben Pharao Ramses‘ III. im Jahr 1155 v. Chr. aus: Der Turiner Justiz-Papyrus sei zusammen mit anderen Textfragmenten wohl „ursprünglich Teil einer einzigen, fünf Meter langen Papyrusrolle“, die eine Gerichtsverhandlung um die sogenannte Haremsverschwörung dokumentiere. „Es war der Plan einer der weniger bedeutenden Königinnen im königlichen Harem, die ihren Sohn als Nachfolger Ramses‘ III. sehen wollte. Bis zu 40 Personen wurden der Verschwörung beschuldigt […]. Sie kamen in vier Gruppen vor Gericht. Viele von ihnen wurden für schuldig befunden und mit dem Tode bestraft; einige zwang man, noch vor den Augen der Richter Selbstmord zu begehen. Die betreffende Königin und ihr Sohn gehörten zu den Hingerichteten“. Rechtsmedizinische Untersuchungen an einem im Pharaonengrab mitbestatteten Leichnam ergaben, dass „der 18 bis 20 Jahre alte sogenannte unbekannte Mann E in rituell unreine Ziegenhaut eingehüllt und nicht korrekt mumifiziert worden (war) – es könnte sich daher um den schuldigen Prinzen handeln; ein DNA-Test hat bestätigt, dass er wahrscheinlich Ramses‘ Sohn war. Forensische Beweise wie das verzerrte Gesicht und Verletzungen am Hals deuten darauf hin, dass er stranguliert worden war“ (S. 196f.).

 

An Hilfsmitteln stellt die Arbeit manches Nützliche bereit, darunter ein Dramatis Personae überschriebenes Spezialregister, das Auskunft gibt über die abseits der Zunft der Altorientalisten wohl wenig präsenten zeitgenössischen Herrscher- und Führungspersönlichkeiten vom Assyrerkönig Adad-nirari I. bis zu Zimri-Lim, König von Mari im heutigen Syrien. Die geographische Orientierung erleichtert eine Karte Kleinasiens und des östlichen Mittelmeerraums (Griechenland, Makedonien, Thrakien, Anatolien, Assyrien, Syrien, Levante, Libyen) mit Einzeichnung der wichtigsten zeitgenössischen Siedlungen und archäologischen Stätten. Ein ausführliches Literaturverzeichnis im Umfang von 37 Druckseiten und ein Register, in das auch Sachbegriffe aufgenommen wurden, ergänzen darüber hinaus den in Form von Endnoten gestalteten Anmerkungsapparat.

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic