Chlodwigs Welt. Organisation von Herrschaft um 500, hg. Meier, Mischa/Patzold, Steffen (= Roma Aeterna 3) Steiner, Stuttgart 2014. 622 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.

 

Eine gemeinsame Tagung von Althistorikern und Frühmittelalterforschern 2011 hatte es sich zum Ziel gesetzt, „Chlodwigs Welt“ zu erfassen und damit Beiträge zur „Organisation von Herrschaft um 500“ zu leisten. Daraus ist ein voluminöser, mehr als 600 Druckseiten umfassender Sammelband mit zwanzig Beiträgen geworden. Zu viel der Ehre für einen Titelhelden, der in gleich mehreren Aufsätzen kaum mit Namen genannt wird? Zu viel des Aufwandes, um eines der klassischen Dark Ages europäischer Geschichte auszuleuchten? Nichts von alledem, stattdessen ein sehr überzeugender Ansatz, der hier nur an wenigen Beispielen aus dem Band verdeutlicht werden kann.

 

In der ersten der fünf Aufsatzgruppen beginnt es gleich widersprüchlich: Bernhard Jussen äußert sich in „Chlodwig der Gallier. Zur Strukturgeschichte einer historischen Figur“ (S. 27-43) als bekennender Gegner biographisch begründeter Heldenstilisierung. Sein Chlodwig ist nicht viel anderes als eine „vergleichsweise gefügige Kreation der gallischen Elite“ (S. 43), sein Königtum schwach, die Elite von ihm ungestört geblieben. – Dagegen steht Matthias Bechers Kontrapunkt: „Chlodwig. Zwischen Biographie und Quellenkritik“ (S. 45-65), eine klassisch biographische Studie, zwar auf notwendig dünnem und problematischem, aber außerordentlich reflektiertem Quellenfundament errichtet. Sie zeigt Chlodwig als den Gründer eines Reichs, das „in der Gunst des Augenblicks (…) das stabilste auf dem Boden des einstigen Weströmischen Reiches“ werden konnte (S. 65). – Hier der entschlossene Herrscher, dort die günstigen Strukturen: Chlodwigs Welt als Kampfplatz von Biographik und Strukturgeschichte?

 

Dieser Gegensatz durchzieht den ganzen Band, und er bleibe – glücklicherweise! – bis zur letzten Seite ungemildert bestehen. Jeder der Beiträge diskutiert, explizit oder implizit, Strukturen und „große Männer“ in ihren Auswirkungen, beides gemeinsam bisweilen zu großen Überblicken ausweitend, wie das Mischa Meier in seinem „Nachdenken über ‚Herrschaft‘. Die Bedeutung des Jahres 476“ vorführt, gleichzeitig dem längsten Beitrag des Bandes überhaupt (S. 143-215). Er hat das Zeug dazu, zu einem Standardaufsatz über Epochengrenzen überhaupt zu werden: Der Fortfall des weströmischen Kaisertums 476 erzwingt theoretische Überlegungen darüber, was „Herrschaft“ eigentlich sei und in welchen Formen man sie nun organisieren könne. Westrom und Ostrom entwickeln sich um 5. Jahrhundert sichtbar auseinander, weil die Institution des Kaisertums hier fortfällt und dort verändert bestehen bleibt. Hinzu treten die Bischöfe von Rom als neue Macht.

 

Neue Herrschaftsräume öffnen sich „Jenseits des Kaisers“, wie zwei weitere Sektionen darlegen. Stefan Esders‘ Analyse von „Nordwestgallien um 500“ (S. 339-361) zeigt die vorangegangene spätrömische Militarisierung als Voraussetzung für die Stabilität des fränkischen Reiches. Stefanie Dick vergleicht in „Childerich und Chlodwig. Fränkische Herrschafts- und Gesellschaftsorganisation um 500“ (S. 365-381) die sich wandelnde Auffassung vom fränkischen Königtum seit der Zeit von Chlodwigs Vater bis über Chlodwig hinaus. Hier findet sich mit Karl Ubl („Im Bann der Traditionen. Zur Charakteristik der Lex Salica“, S. 423-445) auch der einzige, im engeren Sinne rechtshistorische Beitrag. Ubl hebt die Heterogenität der leges hervor, will besonders die Individualität und die Spezifik der Lex Salica betonen und das Gewicht präexistenter Traditionen reduzieren. Die Lex Salica betrachtet er als „ein neu geschaffenes, ausgeklügeltes System, welches einen öffentlichen Strafanspruch in ein System des privaten Schadensausgleichs hüllt“ (S. 444).

 

Schließlich beschäftigt sich eine abschließende Sektion von Beiträgen mit den civitates. Steffen Patzold untersucht ein vermeintlich altes Thema mit großem Gewinn aufs Neue: „Bischöfe, soziale Herkunft und die Organisation lokaler Herrschaft um 500“ (S. 523-543) enthält den Appell, nicht die Reichsaristokratie insgesamt dafür in Anspruch zu nehmen, alle Bischofsämter in ihre Hand bringen zu wollen. Nötig sei ein differenzierender Blick auf sehr unterschiedliche Praktiken der Amtsanbahnung und Amtsführung.

 

Schon der Blick auf diese wenigen Beiträge verdeutlicht, wie zentral die hier vorgelegten Ergebnisse für das Verständnis des Übergangs von der (noch römischen?) Spätantike zum (schon?) fränkischen Frühmittelalter sind. Ein wichtiger Sammelband.

 

Osnabrück                                                     Thomas Vogtherr