Brauneder, Wilhelm, Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB). Eine europäische Privatrechtskodifikation. Band 1 Entstehung und Entwicklung des ABGB bis 1900 (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 60). Duncker & Humblot, Berlin 2014. 308 S. Besprochen von Albrecht Götz von Olenhusen.

 

Zwischen Jahresbeginn 1812 und Jahresende 1814 parlieren zwei „Schutzgeister“ auf dem Planeten „Saturn“. Während noch im Mittelalter die Erde ein Wohnort „vernunftloser Raubthiere gewesen sei, habe man jetzt in Österreich dank Franz dem Ersten ein „neues, vollständiges vaterländisches Gesetzbuch“, kurz, verständlich, aber gleichwohl doch noch der unvermeidlichen Advokatenzunft dringend bedürftig. Die Schutzgeister lagen bei ihren langjährigen aufmerksamen Erdenbesuchen mit dem oberservierten ABGB durchaus im wohlwollenden Trend und gewiss würdigten sie es weitaus positiver als etwa sein großer Kritiker Savigny.

 

Auch sein zweifellos bester heutiger Kenner, der Wiener Rechtshistoriker Wilhelm Brauneder, kann dem grandiosen Gesetzeswerk cum grano salis sehr viel mehr abgewinnen als die Historische Rechtsschule. Der erste hier vorgelegte Band widmet sich der komplexen und langwierigen Gesetzesgeschichte, ihren Entwicklungstendenzen und Hindernissen, den diversen Einflüssen des Naturrechts, der regionalen, lokalen und ausländischen Rechte und den gewaltigen Problemen einer so grundlegenden wie umfassenden Kodifikation. Das Teil-ABGB von 1786 erschien bei Trattner in Wien, zudem in Prag, Graz und Freiburg im Breisgau. Den vollständigen deutschen Urtext enthält dann die Ausgabe von 1811. Es handelt sich um eine Art Enzyklopädie aller Rechtsregeln eines Gebiets. Anders als in Preußen das Allgemeine Landrecht für die gesamte preußische Monarchie galt das ABGB nur für die „deutschen Erbländer“, also die nicht-ungarischen Länder des österreichischen Kaiserreichs. Grenzveränderungen ändern auch die Geltungsbereiche im Laufe der Zeit. Die europäische Politik wird ein nicht unwichtiges Moment für die wachsenden Räume oder deren Einengung. In der Lombardei z. B. wird es erst 1866 durch den Code Civil abgelöst. Durch die Reichsverfassung von 1849 erweiterte sich der Geltungsbereich in der Folge, etwa auf Ungarn. Die Einflüsse auf andere Rechtsordnungen werden im dritten Band dargestellt werden. Das ABGB strahlte u. a. auf Sachsen, auf Schweizer Kantone und auf Südosteuropa aus. Die Wirkungen der Rechtsprechung auf die Auslegung und Anwendung werden ebenso deutlich wie die „Pandektisierung“ (S. 282ff.). Das ABGB gilt im 19. Jahrhundert in unterschiedlichen Verfassungsphasen. Und es ist erstaunlich, dass der Rechtsraum der Kodifikation „mit dem Codex Callimachus von Rumänien bis in die Schweiz“ reicht, von Oberitalien bis an die Grenze Österreichs zu Russland (S. 287). 1911 stellte sich die Frage: Jahrhundertfeier oder Revision? Natürlich feiert man, aber man muss auch mehr oder weniger gründlich weiterhin revidieren. Ab 1912 werden durch neue Gesetze und Teilnovellen modernere Entwicklungen sichtbar. Doch die Beharrungskräfte sind nicht zu unterschätzen. Man hing seit Beginn an Traditionen, die sich im Gewohnheitsrecht niederschlugen, das, eigentlich normativ abgeschafft, in jenen Teilen aber überdauert, in denen es kodifiziert worden war. Auch die hohe Zahl der Verweisungen auf frühere oder andere Gesetze lässt das Regelwerk zuweilen als einen undurchdringlichen Dschungel der vieldeutigen Gelehrsamkeit und nur für den „gebildeten Bürger“ von Stand bestimmt erscheinen. Der Verfasser hat die Genese, die Fortschritte und Änderungen, die Adressaten, die Verbreitung der Gesetzeskenntnisse, die Sprachen und die Übersetzungen minutiös und sachkundig erforscht und dargeboten. Nach 1786 gab es z. B. 1797 eine Geltung der Teile für Galizien. Größere Differenzierungen markieren die konfessionellen Dominanzen und Toleranzen.

 

 Brauneder verfolgt auch das ABGB in der Gesamtrechtsordnung, seine Wirkungen und sein Schicksal im Rechtsunterricht, in der Rechtswissenschaft und der Vertragspraxis, um nur einige wenige Ausschnitte beispielhaft anzuführen. Der Verfasser führt uns nicht nur in nuce gewissermaßen eine Art Rechtsvereinheitlichung vor: „… ‚seit dem Beginn der Kodifikationsarbeiten im Mai 1753‘“ …waren „59 Jahre vergangen“ (S.48)! Zwei Generationen hat es gebraucht. Kann das – sub specie aeternitatis - ein empfehlenswertes Modell sein für die Harmonisierung der Rechtsordnung in Europa? Zeitlich ist man ja nicht so weit davon entfernt. Und man wird sich unschwer vorstellen können, dass die Auswirkungen damals wiederum über Generationen hinweg immens waren. Die Zeit, so sagt man sich, heilt viele Wunden – aber manche auch nicht, die sie selbst oder ihr jeweiliger Akteur im Verlaufe geschlagen hat. Der Blick in die Historie macht somit einigen Mut oder produziert solide Skepsis. Für den einen oder andern Akteur der Vergangenheit ging es auch nicht immer nur gut aus. Manchen maßgeblichen Mitwirkenden wie dem Hofrat Zeiller blieben herbe Enttäuschungen nicht erspart. Der Kaiser war trotz aller unübersehbaren Verdienste weder ihm noch Sonnenfels allzu gewogen. Da fielen für manchen nicht immer genügende oder erwartete Ehrungen und Orden ab. Die positiver wertende Nachwelt blickt mit mehr Achtung jedoch auf das Phänomen einer so langdauernden, fortwirkenden Kodifikation, die mit ihren Beharrungskräften ihresgleichen sucht.

 

 Der Verfasser konnte auf seine reiche Vorarbeiten zurückgreifen (S. 289ff.). Wie interessant diese Forschungsarbeit ist, zeigt zum Beispiel der Vergleich des ständisch geprägten Rechts mit dem egalitäreren Code Civil, dessen Fortdauer nicht überall gewährleistet war. . Mit diesem ersten Band liegt eine Studie vor, welche die Summe der Forschungen des Autors selbst, aber auch den Stand der rechtshistorischen Forschung auf eindringlichste und beste Art und Weise repräsentiert.

 

Freiburg im Breisgau/Düsseldorf                              Albrecht Götz von Olenhusen