Borck, Cornelius, Hirnströme – Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie. Wallstein, Göttingen 2015. 382 S., Abb. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Am 6. August 1930 veröffentlichte der Stadt-Anzeiger Düsseldorf nach den Eingangsworten des vorliegenden Werkes die Nachricht „Dunkelkammer der Psychiatrischen Klinik in Jena. Doppeltüren schließen den Raum schalldicht von der Umwelt ab. Eine bahnbrechende Entdeckung soll ausprobiert werden, die Professor Dr. Hans Berger, dem Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Jena, gelungen ist. Es handelt sich um die Aufzeichnung der Gedanken in Gestalt einer Zickzack-Kurve, um die elektrische Schrift des Menschenhirns“. Danach zirkulierten in dem Moment der Erstbeschreibung die Zacken einer Kurve als „Geheimzeichen“ einer neuen Sprache, deren Entschlüsselung unmittelbar bevorzustehen schien. Diese Vision ist nach dem Verfasser aber (jedenfalls bisher) nicht in Erfüllung gegangen.
Mit ihr beschäftigt sich der in Hamburg 1965 geborene, in Medizin, Philosophie, Religionswissenschaft und Medizingeschichte in Hamburg, Heidelberg und Berlin ausgebildete, 1994 in Berlin den Magister Artium an der Freien Universität in Berlin erwerbende, danach in London, Bielefeld, Berlin und Weimar tätige Autor seit längerer Zeit. 2003 mit entsprechenden Überlegungen für das Fach Medizin- und Wissenschaftsgeschichte an der Freien Universität Berlin habilitiert, legte er während einer Tätigkeit in Montreal bereits 2005 unter dem Titel Hirnströme seine Habilitationsschrift über die Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie im Umfang von 381 Seiten vor. Mit dem unveränderten Dankwort vom März 2005 erscheint die Arbeit des inzwischen nach Lübeck berufenen Verfassers mit Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft im gleichen Verlag ohne weitere Erklärung nochmals.
Gegliedert ist sie in sieben Abschnitte. Sie betreffen nach elektrisierenden Hirnbildern Hans Bergers langen Weg zum EEG, Elektrotechniken des Seelenlebens, als Terra nova Kontexte elektroenzephalographischer Explorationen, den Gang von der kulturellen Praxis einer neuen Technik bis zu dem elektrischen Gehirn in Auschwitz, das EEG in seiner Bedeutung für Hirntheorien aus dem Modellbaukasten und schließlich ein Plädoyer für eine offene Epistemologie. Im Ergebnis stellt er am Ende nüchtern fest, dass sich das Gehirn des Menschen trotz einer enormen Datenproduktion und vielfältiger Modellierungen jedenfalls bisher hartnäckig allen elektrischen Deutungsversuchen entzog. Deswegen bleibt es auch zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung eine offene Frage, wie die „aktuellen“ Methoden der Elektrophysiologie in den Neurowissenschaften eine Physiologie des Geistes entwerfen werden, wenn und solange Hirnforschung als „Wissenschaft vom Unwissbaren“ angesehen werden kann oder muss.
Innsbruck Gerhard Köbler