Bonnett, Alastair, Die seltsamsten Orte der Welt. Geheime Städte. Wilde Plätze. Verlorene Räume. Vergessene Inseln. Aus dem Engl. v. Wirthensohn, Andreas. C.H.Beck, München 2015. 296 S., 9 Ill. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Der rationalen Durchdringung unserer Welt, ihrer Vermessung und Entzauberung stellt der an der Universität Newcastle wirkende britische Sozialgeograph und Verfasser des vorliegenden Bandes, Alastair Bonnett, ein Grundbedürfnis des Menschen nach Orten gegenüber, die sich gängigen Erwartungen verweigern und die Flucht aus der Routine ermöglichen. Er spricht von dessen „Topophilie“, die sich „niemals auslöschen oder befriedigen“ lasse. Die 47 Orte, die sein Buch vorstellt, reichen „von höchst exotischen und grandiosen Projekten bis zu den bescheidenen Ecken meiner Heimatstadt“, aber sie seien „alle gleichermaßen in der Lage, unsere geographische Vorstellungskraft anzuregen und zu verändern. Gemeinsam sorgen sie dafür, dass die Welt fremder, eigenartiger erscheint, dass sie zu einem Ort wird, an dem Entdeckung und Abenteuer sowohl im Nahen wie im Fernen nach wie vor möglich sind“ (S. 13ff.).

 

Teils sind die Orte, mit denen sich dieses unkonventionelle Buch befasst, allgemein bekannt und bedeutend, teils aber auch banal und scheinbar bedeutungslos. In die erste Kategorie fallen beispielsweise Lokalitäten wie Leningrad, Mekka, der Aralsee (hier erscheinend als Aralkum-Wüste), Prypjat (die völlig verstrahlte Stadt nahe Tschernobyl), der internationale Luftraum, der Berg Athos und Kolumbien (dessen von der Guerillabewegung FARC kontrollierte Gebiete). Am anderen Ende des Spektrums stehen ein Fuchsbau und eine Verkehrsinsel. Der Verfasser billigt aber jedem seiner Orte einen eigenständigen Wert zu und kennzeichnet diese Äquivalenz dadurch, dass er, wo immer es möglich ist, exakte geographische Koordinaten nach Google Earth beifügt. Seine durch den jeweiligen Ort angestoßenen Überlegungen beschäftigen sich mit dessen Geschichte und liefern philosophische Interpretationen von allgemeinem Aussagewert. Dass für diesen exotisch anmutenden Forschungsbereich bereits ein überschaubares Schrifttum vorliegt, beweist das zwei Seiten starke Literaturverzeichnis am Ende des Bandes.

 

Seinen Interessen folgend, fasst Alastair Bonnett diese Orte in acht Gruppen zusammen. Es geht demnach um verlorengegangene Orte, versteckte Geographien, Niemandsländer, Geisterstädte, Ausnahmeräume, Enklaven und abtrünnige Nationen, schwimmende Inseln sowie vergängliche Orte. Sie alle transportieren Paradoxien, die scheinbare Gewissheiten relativieren und unser kreatives Potential anregen. Mitten in New York hat einst der Künstler Alan Sonfist in seinem Projekt Time Landscape ein Areal mit ursprünglich einheimischen Pflanzenarten wiederbegrünt, in das laufend fremde Gewächse eindringen, welche die Stadtverwaltung entfernen lässt. Dazu der Verfasser: „Die Stadt ist ein Ort, an dem die Natur herausgeschnitten und dann betrauert wird; erst getötet, dann von den Toten auferweckt, nur um anschließend in abgezäunten Räumen floralen Gedenkens beigesetzt zu werden. Die Pflanzen, welche die Sepulkrallandschaft von Time Landscape heimsuchen, werden herausgerissen […] und dann zur Einäscherung abtransportiert. Sie bilden damit ein ganz eigenes Monument, ab in die Flammen, unsere Rache an der Rache der Natur, immer und immer wieder geübt. Die sorgfältig gepflegten Überreste der Natur, die übrig bleiben, sind zu anämisch, um eine fruchtbare oder bedeutungsvolle Vergangenheit zu evozieren, auch wenn sie dafür sorgen, dass Time Landscape den Status als Gedenkort für vergangene Natur wie für vergangene Kunst behält“ (S. 45). Gute Nachrichten über eine üppige Flora und Fauna auf dem Gelände des auf Jahrhunderte atomar verseuchten Prypjat „sollen suggerieren, dass die Gegend sich erholt und dass tödliche Strahlung und Artenvielfalt sich wunderbar vertragen. Den Traum von der Stadt, die an die Natur zurückgegeben wird, gibt es schon lange. Je mehr wir verstädtern und je mehr wir uns der Natur entfremden, desto stärker treibt uns diese Vorstellung um. […] Wir sollten etwas zurückgewinnen, uns mit etwas vereinen, das wir verloren hatten. Die Zukunft, die Prypjat uns vor Augen führt, ist eine andere“ (S. 142f.).

 

Die Paradoxien erscheinen jedoch nicht nur im Ökologischen, sondern berühren ebenso das gesellschaftspolitische Feld. Selenogorsk, 3500 Kilometer östlich von Moskau gelegen, gehörte als Produktionsort für waffenfähiges Plutonium zur Reihe der geheimen und geschlossenen Städte der ehemaligen Sowjetunion; nach deren Zusammenbruch votierten seine Bewohner überraschenderweise gegen eine Öffnung und damit gegen die Gefahren der freien Welt. Mittlerweile habe Selenogorsk „den Übergang von einer kommunistischen zu einer kapitalistischen geschlossenen Stadt erfolgreich bewältigt. Seine breiten Straßen mögen wie eine sowjetische Bühne aussehen, aber dieser Ort erzählt weniger über die Vergangenheit als über das hohe Maß an Privatheit und Sicherheit, nach dem heutige Unternehmen und heutige Bürger verlangen“ (S. 64). Solchen Schutzes bedürfen auch und besonders die wenigen Kulturen, die noch nicht von den Segnungen unserer Zivilisation, die schon so viele Völker vom Erdball verschwinden ließ, erreicht wurden. Instinktiv unterbinden die wehrhaften Eingeborenen der abgelegenen Andamaneninsel North Sentinel Island im Indischen Ozean jeden - auch freundlichen - Annäherungsversuch mit unverhohlener Aggression, sodass bis dato über dieses Volk, seine Sprache und seine Kultur praktisch nichts bekannt geworden ist. Die zuständige Administration hat den bemerkenswerten Beschluss gefasst, den Wunsch dieser Menschen, isoliert zu leben, zu akzeptieren und sie in Ruhe zu lassen; niemand mehr darf sich der Insel nähern. Ob diese Regelung in der vorliegenden Weise aber auch getroffen worden wäre oder Bestand hätte, wenn die Insel über nennenswerte Ressourcen von wirtschaftlichem Interesse verfügte, darf mit gutem Grund bezweifelt werden.

 

Dieses Thema der Grenzziehung wird im Buch immer wieder neu aufgegriffen. So sei „das Terrain ‚zwischen‘ Staaten ein Ort, den man für frei halten kann, aber es ist auch ein Ort, der uns daran erinnert, warum Menschen bereitwillig Freiheiten aufgeben, um hinter einer Grenze Ordnung und Sicherheit zu genießen“ (S. 93 - Zwischen Grenzposten Guinea und Senegal). An anderer Stelle liest man: „Grenzen haben mit Gebietsansprüchen zu tun, aber sobald man eine Grenze zieht, setzt man sich selbst Grenzen. Jede Grenze ist gleichzeitig ein Akt der Verneinung, eine Anerkennung der Rechte des anderen. Im Gegensatz dazu bedeutet die Forderung, man wolle keine Grenzen, die von Wirtschaftsvertretern und antikapitalistischen Aktivisten gleichermaßen hochgehalten wird, einen Anspruch auf die ganze Welt“ (S. 97 - Bir Tawil). Oder: „Baarle-Nassau und Baarle-Hertog sind zwei Dörfer, die in- und nebeneinander liegen. So verteilen sich zweiundzwanzig Stückchen Belgien (Baarle-Hertog […]) auf eigenartige Weise in und um die niederländische Stadt Baarle-Nassau […], und acht Teile von Baarle-Nassau wiederum liegen innerhalb dieser belgischen Fragmente. […] Auf einem 160 Meter langen Stück […] konnte ich binnen weniger als einer Minute fünf nationale Grenzen überschreiten. […] Baarle […] zeigt, dass Menschen mit Hilfe von Grenzen ein positives Identitätsgefühl aufbauen können, ohne damit gleichzeitig anderen Menschen das Leben zu vergällen“ (S. 206ff.). Die angesichts der derzeitigen Flüchtlingskrise in der Europäischen Union aufbrechenden Differenzen in Fragen der Durchlässigkeit der Grenzen bestätigen beredt die Aktualität solcher Gedanken.

 

Dass Orte immer auch Fragen des Rechts implizieren, wird an vielen der präsentierten Lokalitäten thematisiert. Vor allem der den „Ausnahmeräume(n)“ gewidmete Teil des Bandes regt die Auseinandersetzung mit zahlreichen Rechtsfragen an. Die niederländische Militäreinrichtung Camp Zeist nahm für drei Jahre die schottische Nationalität an, um ein Gerichtsverfahren gegen zwei mutmaßliche libysche Attentäter von Lockerbie zu ermöglichen, im rumänischen Bukarest betrieb die CIA unter dem Codenamen „Bright Light“ zwischen 2003 und 2006 ein geheimes Verhör- und Internierungszentrum in einem unauffälligen Gebäude in der Mures-Straße 4. Die somalische Stadt Hobyo am Horn von Afrika erscheint als ein Musterbeispiel für feral cities, für „Regionen, die über keine effektive Regierung mehr verfügen, sondern eine international vernetzte kriminelle Ökonomie unterhalten“ und welche „die Fähigkeit verloren (haben), die Geltung des Rechts aufrechtzuerhalten“ (S. 196). Auf Sealand wiederum, einer 550 Quadratmeter großen Plattform in der Nordsee, versuchte Roy Bates 1967 seinen eigenen souveränen Staat als Fürstentum zu schaffen. Die alte juristische Streitfrage, in welcher Höhe nationale Souveränitätsrechte enden, ist selbstverständlich essentielles Thema des Beitrags zum internationalen Luftraum. Und schließlich kontert der Verfasser die behauptete Rechtfertigung des umstrittenen Frauenverbots auf dem Berg Athos mit dem Respekt vor der Lebensweise der Mönche und die Frage, ob ein solch fehlender Respekt, der angeblich die Menschenwürde verletze, Grundlage eines Menschenrechts sein könne, mit entwaffnender Logik: „So gesehen könnte man jedes Menschenrecht allein deshalb leugnen, weil es sich auf die Entscheidungen von jemand anderem auswirkt“ (S. 184).

 

Die Beispiele zeigen, wie vielfältig und inspirierend die Betrachtungen sind, die Begegnungen mit unterschiedlichen Orten auszulösen vermögen. Der letzte Ort, an den uns der Verfasser führt, sind die Verstecke seiner Kindheit in Stacey’s Lane, für ihn „eine besondere Form des Spielens, nicht mit Puppen oder Spielzeugpistolen, sondern mit Orten“, und diese sei „in besonderem Maße privat und verletzlich“ (S. 274). Als eine Art Bekenntnis beschließt seine „Ode an eine Orte liebende Spezies“ die schillernde Arbeit: „Weil der Ort selbst für die Identität des Menschen unabdingbar ist, gilt das auch für seine Paradoxa. Die grundlegenden Vorstellungen und Bindungen der Menschen entstehen nicht irgendwo oder nirgendwo, sondern sie werden im Rahmen ihrer Beziehung zum Ort und durch diese Beziehung bestimmt“ (S. 281). Nichts weniger macht der vorliegende, auch sprachlich besonders gelungene und sehr lesenswerte Band deutlich.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic