Boetticher, Eike Alexander von, Die Justizorganisation im Königreich Hannover nach 1848 und ihre Ausstrahlungskraft auf die Staaten des Deutschen Bundes und das Reich bis 1879 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsen Band 136). Wehrhahn Verlag, Hannover 2014. 482 S.
Bereits in der Einleitung stellt von Boetticher fest, dass die Justizgesetze Hannovers von 1850/52 „zu den modernsten und fortschrittlichsten in Deutschland“ gehörten und „vielen anderen deutschen Staaten bei ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit zum Vorbild dienten“ (S. 11). Bislang fehlte eine Darstellung, „die die Reformen in ihrem Gesamtzusammenhang beschreibt und die Aufschluss darüber gibt, welche Faktoren und historische Gegebenheiten es ermöglichten, das gerade in Hannover solche bahnbrechenden Reformen im Justizbereich durchgesetzt werden konnten“ und welchen Einfluss die hannoversche Gesetzgebung auf die Gesetzgebung anderer Staaten und die Vereinheitlichungsgesetze hatte (S. 11). Es ist deshalb zu begrüßen, dass sich von Boetticher in seiner philosophischen Dissertation (Universität Hannover) dieser Thematik angenommen hat. Unter der „Justizorganisation“ versteht er die Gerichtsverfassung, den Zivilprozess, das Strafverfahren sowie die Rechtsanwaltschaft und das Notariat. Quellen der Darstellung sind neben dem reichhaltigen Schrifttum die Überlieferungen im Hauptstaatsarchiv Hannover und in den zentralen Archiven für Sachsen, Bremen, Württemberg, Baden, Österreich und Preußen. Nicht erhalten geblieben sind die Akten des hannoverschen Staatsministeriums bis auf die Beratungsunterlagen zur Strafprozessordnung (S. 168).
Zunächst stellt von Boetticher „Probleme des Justizwesens bis zum 19. Jahrhundert in Deutschland“ dar (S. 23-48). Behandelt werden der Straf- und Zivilprozess, die Gerichtsverfassung, die Rechtsanwaltschaft und des Notariats (zum letzteren jetzt ausführlich in: Matthias Schmoeckel/Werner Schubert [Hrsg.], Handbuch zur Geschichte des deutschen Notariats seit der Reichsnotariatsordnung von 1512, Baden-Baden 2012, S. 257ff.), die Historische Richtschule und die Juristische Fakultät der Universität Göttingen, der 1825 1545 Studenten angehörten. Der nächste Abschnitt befasst sich mit dem „Politischen Hintergrund in Hannover“ (S. 49-63; S. 60 f. zur Aufhebung des Staatsgrundsatzes von 1833 durch Ernst August im Jahre 1837) und mit dem hannoverschen Rechtswesen vor 1848 (S. 65-104). Auf den Seiten 76ff.ff. weist von Boetticher auf die weitgehend am französischen Recht orientierte Justizgesetzgebung des Königreichs Westphalen hin, insbesondere auf die Umgestaltung des Zivil- und Strafprozesses und des Notariats. Nach der rigorosen Restauration des Justizwesens durch das Königreich Hannover 1813/1814 kamen bald Reformforderungen auf (S. 85ff.). Die Untergerichtsordnung von 1827 vereinheitlichte das bisher stark zersplitterte Zivilprozessverfahren, hielt jedoch an dessen gemeinrechtlichen Grundlagen fest. Weder das Gesetz über das Gerichtsverfahren in Kriminalsachen von 1840 noch die Allgemeine Bürgerliche Prozessordnung von 1847 führten zu einem mündlichen und öffentlichen Gerichtsverfahren.
Die Revolution von 1848 war dann der Ausgangspunkt der Reform der hannoverschen Justizorganisation, die das neue Kabinett unter von Bennigsen (Ministerpräsident), Stüve (Innenminister) und Düring (Justizminister) durchsetzte. In Kapitel 6 (S. 119ff.) geht es zunächst um die innenpolitische Entwicklung Hannovers zwischen der Revolution von 1848 bis zum Abschluss der Justizreform unter dem Ministerium Schele/Windthorst, in Kapitel 7 um das Zustandekommen der Reformgesetze (S. 145ff.) und in Kapitel 8 um die Detailerschließung der Reformgesetze (Gerichtsverfassungsgesetz, Bürgerliche Prozessordnung, Strafprozessordnung und Anwaltskammergesetz von 1850), die im Juni/Juli 1850 von den Ständen verabschiedet worden waren, jedoch erst am 1. 10. 1852 in Kraft traten. Als Besonderheit der Strafgerichtsverfassung ist die Einsetzung von Schöffengerichten an den Amtsgerichten zu erwähnen (S. 226ff.). Die Schwurgerichte waren bereits nach einem Gesetz vom 23. 12. 1849 eingerichtet worden (Einschränkung ihrer Zuständigkeit durch ein „Notgesetz“ vom 22. 12. 1855, S. 353f.). Gegen die Strafurteile der Amtsgerichte und der Obergerichte war das Rechtsmittel der Berufung an das Celler Oberappellationsgericht gegeben. Gegen Erkenntnisse der Schwurgerichtshöfe war dagegen lediglich die Nichtigkeitsbeschwerde zulässig (S. 277ff.). Die Staatsanwaltschaft hatte einen ähnlich breiten Aufgabenbereich wie nach französischem Recht, aber keine eigene Dienstlaufbahn; lediglich der Obergerichtsanwalt am Oberappellationsgericht war Verwaltungsbeamter (S. 232ff.). Die Strafprozessordnung von 1850/1852 beruhte im Wesentlichen auf dem französischen Recht, während der Bürgerlichen Prozessordnung nicht primär der französische Zivilprozess von 1807, sondern dessen Modifikation durch den Genfer Code de procédure civile von 1819 zum Vorbild diente. Beibehalten wurde das gemeinrechtliche Beweisurteil, das bindend war, wenn es auch nicht selbständig angefochten werden konnte (S. 255ff.). Die Rechtsanwaltschaft war zweigeteilt (S. 337ff.): Der Anwalt (der bisherige Prokurator) unterlag Beschränkungen in der Wahl des Wohnsitzes, während der Advokat bei dessen Wahl grundsätzlich keinen Beschränkungen unterfiel. Eine Freigabe der Anwaltschaft war nicht vorgesehen. Das strikt mündliche zivilprozessuale Verfahren mit der Zäsur durch das Beweisurteil bewährte sich sehr schnell und hatte ebenso wie die Institution der amtsgerichtlichen Schöffengerichte bald Vorbildwirkung für andere Bundesstaaten. Dies führte zu einer „regelrechten Massenwanderung“ nach Hannover insbesondere von Juristen aus Württemberg, Baden und Oldenburg (S. 436).
Im 9. Kapitel untersucht von Boetticher die Gesetzgebung der anderen deutschen Staaten nach 1848 und ihre Beeinflussung durch die hannoversche Justizorganisation (S. 290-348), und zwar von Württemberg, Baden, Preußen, Bayern, Sachsen, Österreich, Hessen-Kassel, Oldenburg, Braunschweig und Bremen. Insbesondere Württemberg und Baden (hierzu vgl. W. Schubert, Prozess-Ordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Großherzogtum Baden von 1851 und 1864, Goldbach 1997, S. VIIIff.) orientierten sich an der „hannoverschen Mündlichkeit“ des Zivilprozesses und gegebenenfalls am hannoverschen CPO-Entwurf von 1866, der das hannoversche Prozessrecht fortentwickelte. Bayern schloss sich mit seiner CPO von 1869 stark dem französischen Verfahrensrecht an; insbesondere kannte sie keine Verfahrenszäsur durch Beweisurteil, das weiteres Vorbringen ausgeschlossen hätte (S. 319ff.; vgl. auch W. Schubert [Hrsg.], Entwurf der Prozessordnung in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten für das Königreich Bayern von 1825, Goldbach 1993, S. XXXIIff., ILVff.). Teilweise eigene Wege gingen die braunschweigische Zivilprozessordnung vom März 1850, die sich stärker dem gemeinen Prozess anschloss, sowie die oldenburgische Zivilprozessordnung von 1857 (S. 337ff., 343ff.). In Kapitel 10 arbeitet von Bötticher heraus, dass die Änderungen in der „Justizorganisation“ Hannovers von 1855/1859 zwar nicht „unwesentliche Änderungen“ der Justizgesetze von 1850/57 brachten, jedoch deren „Kern“ (S. 359) nicht antasteten. Nach der Annexion Hannovers war das Obergericht in Celle fortan dem Oberappellationsgericht für die neuen preußischen Landesteile in Berlin untergeordnet (hierzu Kapitel 11, S. 361ff.). Die Strafprozessordnung von 1850/1852 wurde durch eine Strafprozessordnung ersetzt, die im Wesentlichen auf dem preußischen Entwurf zu einer Strafprozessordnung von 1865 beruhte. Im Dezember wurde Leonhardt (ab 1848 im hannoverschen Justizministerium tätig, 1865/1866 Justizminister, anschließend Vizepräsident des Celler Obergerichts und danach Präsident des Berliner Oberappellationsgerichts) preußischer Justizminister (von Ende 1867 bis 1879).
Bevor von Boetticher auf die Reichsjustizgesetze eingeht, behandelt er den Entwurf einer allgemeinen Civilprozessordnung für die deutschen Bundesstaaten von 1866, den preußischen CPO-Entwurf von 1864 und den von einer Bundesratskommission aufgestellten Entwurf einer Civil-Prozessordnung für den Norddeutschen Bund von 1870 (S. 373ff.). Der preußische Entwurf orientierte sich fast ausschließlich am französischen Zivilprozess und lehnte jede erstinstanzliche Verfahrenszäsur ab. Der hannoversche Entwurf richtete sich dagegen am Verfahrensrecht Hannovers aus und hielt auch am Beweisurteil fest, das jedoch den Richter nicht mehr binden sollte, womit es den wichtigsten Teil seiner Wirkung verlor. Der norddeutsche CPO-Entwurf behielt die Eventualmaxime bei, wenn auch in abgeschwächter Form (S. 401). Im folgenden Abschnitt behandelt von Boetticher den Einfluss der hannoverschen „Justizorganisation“ und hannoverscher Juristen auf die Reichsjustizgesetze (CPO, StPO und GVG von 1877, Rechtsanwaltsordnung von 1878). Ausgangspunkt der Beratungen über die CPO war der preußische Justizministerialentwurf von Leonhardt, der bereit 1866 erkannt hatte, dass sich der deutschrechtliche Grundsatz der Verfahrensteilung in Zukunft nicht mehr aufrecht erhalten ließe. Aus diesem Grund wies der Justizministerialentwurf jegliche Verfahrenszäsur zurück. Um der Prozessdauer eine Grenze zu setzen, sollte im Rechtsmittelverfahren neues tatsächliches Vorbringen ausgeschlossen sein. Mit dieser Konzeption konnte sich Leonhardt im Bundesrat 1874 nicht durchsetzen, so dass weiterhin die volle Berufung auch gegen landgerichtliche Urteile gegeben sein sollte (S. 410). Auch mit seinem Vorschlag, alle erstinstanzlichen Strafgerichte unter Abschaffung des Schwurgerichts durchgehend mit Schöffen zu besetzen, überzeugte Leonhardt die Mehrheit nicht (S. 413f.). Ebenfalls keinen Erfolg hatte Leonhardt mit seinen Vorschlägen, das Notariatsrecht zu vereinheitlichen (hierzu Quellen bei W. Schubert [Hrsg.], Materialien zur Vereinheitlichung des Notariatsrechts [1872-1937], Köln 2004, S. 21ff.) und die Staatsanwaltschaft nach hannoverschem Muster einzurichten (S. 416 f.). Hinsichtlich der Debatten in der Justizkommission des Reichstags stellt von Boetticher vornehmlich die Beiträge hannoverscher Juristen heraus (S. 419ff.). Zur Rechtsanwaltsordnung von 1878 (S. 429ff.) arbeitet v. Boetticher heraus, dass die Regelung über die Anwaltskammern weitgehend der des hannoverschen Recht entsprechen. In der Gesamtwürdigung fasst von Boetticher die Gründe zusammen, die dazu führten, dass Hannover mit den Justizgesetzen von 1850/52 „zu den modernsten deutschen Staaten“ gehörte (S. 439ff.). – Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personenverzeichnis (S. 445ff.); ein Sachregister wäre aus rechtshistorischer Sicht hilfreich gewesen. Auch eine detaillierte Zeittafel wäre für den Leser nützlich gewesen.
Mit dem Werk von Boettichers liegt nahezu eine Gesamtdarstellung der hannoverschen „Justizorganisation“ des 19. Jahrhunderts und der Entwicklungen in den deutschen Bundesstaaten und im Deutschen Reich bis 1878 im Vergleich zur hannoverschen Gesetzgebung vor. Die Darstellung verbindet Politikgeschichte und Rechtsgeschichte in überaus gelungener Weise. Mit Recht stellt von Boetticher die Person des im Übrigen „unpolitischen“ hannoverschen Ministerialbeamten und späteren preußischen Justizministers Leonhardt als „hauptverantwortlich“ für die hannoversche Justizgesetzgebung und die Reichsjustizgesetze heraus. Bei zwei seiner in die Zukunft weisenden Reformideen hatte er sich jedoch nicht durchsetzen können. Die von ihm gewünschte Beseitigung der Schwurgerichte zugunsten der Schöffengerichte erfolgte bereits 1924, eine Beschränkung der zweitinstanzlichen und drittinstanzlichen Rechtsmittel gegen Urteile in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten hat sich weitgehend erst in den ZPO-Novellen ab 2001 durchgesetzt. Insgesamt liegt mit dem Werk von von Boetticher ein auch für die Rechtsgeschichte wichtiges und höchst lesenswertes Grundlagenwerk vor, das die Justiz-geschichte und die Prozessrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts unter dem Gesichtspunkt der hannoverschen „Justizorganisation“ von 1850/1852 erschließt.
Kiel |
Werner Schubert |