Bismarck - Der Monolith. Reflexionen am Beginn des 21. Jahrhunderts, hg. v. Mayer, Tilman. Osburg Verlag, Hamburg 2015. 365 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als Eiserner Kanzler ist Otto von Bismarck (1815 – 1898) längst in die Geschichte eingegangen (wohl wegen seines Diktums aus 1852 von „Eisen und Blut“, welche „die großen Fragen der Zeit“ entscheiden würden, und der nachfolgenden drei deutschen Einigungskriege), nun hat ihm ein findiger Herausgeber ein weiteres starkes Epitheton verliehen: Bismarck, der „Monolith“. Der aus dem Griechischen (μονο = einzel-, λίθος = Stein) gebildete Begriff stellt laut Duden ein(e) „Säule, Denkmal aus einem einzigen Steinblock“ vor. Als solcher erscheine er, Bismarck, „im Rückblick und aus der Ferne eigentlich auch als Unikat und Solitär“ [weitere schöne Epitheta! WA]. Allerdings „bei näherer Betrachtung – Reflexionen – ändert sich der Eindruck ein wenig, steht er nicht allein, sondern eingebettet in Koalitionen und Bündnisse, war gar abhängig von Kooperationsbereitschaften vieler seiner Kollegen […]. Dennoch überragt Bismarck seine politische Klasse und seine Nachfolger; jedenfalls scheint es so, als ob seine große Gestalt noch im 21. Jahrhundert erkennbar ist und dazu einlädt, über sein Erbe nachzudenken“ (S. 26). Also dann doch ein Monolith?
Wie auch immer: Ohne Zweifel verleihen Bismarcks Leistungen, allen voran die nationale Einigung Deutschlands, ihm einen einzigartigen Rang in der Geschichte, und selbstverständlich waren auch seine Machtbefugnisse an die Regeln der konstitutionellen Monarchie gebunden und keineswegs unbegrenzt. Aus vielerlei Gründen sind daher seine Person und sein Werk auch jetzt noch, 200 Jahre nach seiner Geburt, für uns von Interesse. Tilman Mayer, Professor für Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn, hat sich bemüht, eine bunte Palette von Beiträgen im vorliegenden Band zu versammeln, um das Feld dieses Interesses sichtbar abzustecken. Kanzleramtsminister Peter Altmaier konnte für ein Geleitwort aus der Warte der aktuellen Politik gewonnen werden („Wann immer wir meinen, auf festem Grund zu stehen, stehen wir meist auf Bismarcks Schultern, auch wenn sie tief im historischen Treibsand vergraben sind.“ S. 12), der Herausgeber versucht sich in seiner Einführung an einer knappen Skizzierung der wesentlichen Leitlinien der Ära Bismarck und stellt anschließend die folgenden zehn Aufsätze kurz vor. Sein Bonner Mitarbeiter Holger Jackisch steuert darüber hinaus eine chronologisch gelistete Kurzbiographie Bismarcks im Umfang von zwei Seiten und eine Auswahlbibliographie bei. Das Nachleben des großen Kanzlers umreißt der aktuelle Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Ulrich Lappenküper, der dabei auch die politischen Bedenken und Querelen um die Einrichtung dieser heute wohleingeführten Institution thematisiert.
Der älteste und einzige bereits publizierte Beitrag (1968; deutsch 1971) stammt vom vielleicht namhaftesten Verfasser: Henry A. Kissinger, geboren in Fürth, Berater mehrerer US-Präsidenten und von 1973 bis 1977 Außenminister der USA, hat in seinen „Reflexionen über Bismarck“ den Begriff des „weißen Revolutionärs“ so überzeugend geprägt, dass ihn später Lothar Gall (1980) im Titel seiner großen Bismarck-Biographie übernommen hat. Die hellsichtige Analyse des Staatsmannes Kissinger zeigt, wie sehr sich das realpolitische Denken Bismarcks von den Maximen der Konservativen entfernt hatte; seinem einstigen Förderer, dem Generaladjutanten des preußischen Königs, Leopold von Gerlach, teilte er bezeichnend mit: „Ich bin ein Kind anderer Zeiten als Sie aber ein ebenso ehrliches der meinigen, wie Sie der Ihrigen“ (S. 310). In diesem Sinne gelang es ihm, den Nationalismus vom Liberalismus abzukoppeln und der preußischen Krone dienstbar zu machen. Zur Beurteilung von Bismarcks Weg bemerkt Kissinger: „Der eigentliche Unterschied muss zwischen den Politikern, die ihre Ziele der Realität anpassen, und denen, die die Realität nach ihren Zielen gestalten wollen, getroffen werden. Bismarck – wie alle Revolutionäre – gehörte in die letzte Kategorie“ (S. 297). Dass er es dennoch verabsäumte, außenpolitisch wie innenpolitisch nachhaltig stabile, den Erfordernissen der Zeit adäquate Strukturen zu etablieren, sei seine Tragik: „Ein System, das in jeder neuen Generation der führenden Hand eines großen Mannes bedarf, setzt sich selbst einer fast unentrinnbaren Bedrohung aus, und sei es auch nur, weil ein überragendes Genie die Möglichkeit verschüttet, dass sich neben oder nach ihm andere starke Persönlichkeiten entwickeln. […] So betrachtet kann die herausragendste Gestalt der neueren deutschen Geschichte sehr wohl die Saat der Tragödien des 20. Jahrhunderts gesät haben“ (S. 315).
Neben dieser auch vor dem Hintergrund neuerer Forschungen durchaus noch bestehenden Gesamtbetrachtung widmen sich die weiteren Beiträge spezielleren Themenfeldern. Wegen ihrer verfassungsgeschichtlichen Orientierung und den in ihrer Klarheit bestechenden Aussagen hervorzuheben ist die Arbeit des in Freiburg lehrenden Historikers Hans Fenske, der betont, schon „der junge Bismarck war Gegner des bürokratischen Absolutismus und hielt den Übergang Preußens zum Verfassungsstaat für geboten“ (S. 102). Später hatte er „an der Entstehung der norddeutschen Verfassung einen starken Anteil, namentlich hinsichtlich der Vorschriften über das Präsidium und den Reichstag, er schnitt sie aber nicht, wie nicht selten gesagt wurde, auf den Leib zu“ (S.127). Insgesamt sei die Frage, ob Deutschland mit dem Verfassungswerk von 1867/71 auf dem Weg zur Moderne war, „unbedingt zu bejahen“, es sei ein „drastisches Fehlurteil, wenn man das Deutsche Reich als eine ‚pseudokonstitutionelle autoritäre Monarchie‘ versteht, in der die Parteien ohnmächtig waren. Die deutsche Innenpolitik war wesentlich von einer umfangreichen legislativen Tätigkeit bestimmt, und dabei leistete der Reichstag den bedeutendsten Teil der Arbeit“ (S. 140f.). Hiermit werden eingeschliffene Vorstellungen einer „Kanzlerdiktatur“ deutlich zurechtgerückt.
Bismarcks Politik fordert zum Vergleich mit anderen namhaften Gestalten im Kanzleramt heraus; so stellt ihn Peter März, langjähriger Leiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, zusammen mit Bernhard von Bülow, Konrad Adenauer und Helmut Kohl auf den Prüfstand und bemerkt mit leichter Süffisanz in Bezug auf Angela Merkel: „Was ihn in seiner Politiktypologie eher von manchen Kanzlern – und zumal der amtierenden Bundeskanzlerin – der 1949 ins Leben getretenen Bundesrepublik unterschied, war ein stetes Bemühen um Optionen und Alternativen“ (S. 94). Der emeritierte Ordinarius für Politikwissenschaft Hans-Peter Schwarz wiederum wagt mit inspirierenden Gedankengängen den Vergleich der beiden „Einiger“ Otto von Bismarck und Helmut Kohl, gerade weil „auf den ersten und auf den zweiten Blick die Umbruchepochen 1864-1871 und 1985-1991 völlig unvergleichbar“ seien (S. 328), und auch der wortgewaltige Michael Stürmer knüpft mit seinen knappen, nur an die acht Seiten einnehmenden Betrachtungen zu Bismarck an der Wendemarke von 1989/1990 an. Ulrich Schlie, selbst im diplomatischen Dienst, erörtert den deutschen Dualismus mit der Entscheidung von 1866. Zwei Aufsätze nehmen wiederum Bismarcks sozialpolitisches Engagement in den Fokus: Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe kann gute Argumente namhaft machen, diese Sozialpolitik fürderhin aus dem behaupteten, allzu engen kausalen Konnex mit der Sozialistenverfolgung zu lösen, während Brigitte Seebacher, Honorarprofessorin für Politikwissenschaft an der Universität Bonn, gerade die Unterdrückung der Sozialdemokratie durch Bismarck, sein Verhältnis zu Ferdinand Lassalle und speziell das Schicksal August Bebels in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellt. Angeregt durch Bismarcks junkerliche Standeszugehörigkeit und die ihm vorgeworfene Interessenspolitik (Agrarprotektionismus), forscht schließlich der lange an der Technischen Universität Berlin Geschichte lehrende Heinz Reif dem Bedeutungswandel dieses Begriffs in der politischen Auseinandersetzung nach und stellt fest: „Durch eine anderthalb Jahrhunderte währende, von Enttäuschungen über das Nicht-verschwinden der altpreußischen adligen Machtelite vorangetriebene Arbeit von Linksliberalen und Sozialdemokraten am politischen Kampfbegriff des Junkers und durch dessen langfristige, zunehmend stärker verzerrende emotionale Aufladung mit ‚üblen Nebenbegriffen‘ hatte dieser Begriff Schritt für Schritt seinen Realitätsgehalt verloren. […] Das Bild des altpreußischen, ostelbischen Adels ist inzwischen durch zahlreiche neuere Studien aus dem ihm Scheinhomogenität aufzwingenden Korsett des politikkritischen wissenschaftlichen Junkerbegriffs befreit worden und hat an innerer Vielfalt gewonnen “ (S. 217).
So stellt der vorliegende Sammelband für den Interessierten eine Vielfalt von Einblicken in die mit den Leistungen Otto von Bismarcks verbundenen Problemfelder bereit. Die meisten Beiträge lösen das Versprechen des Gegenwartsbezuges ein und lassen erkennen, dass mit der Historisierung Bismarcks sein politisches Denken in vielem nicht an Aktualität eingebüßt hat.
Kapfenberg Werner Augustinovic