Benecke, Lydia, Auf dünnem Eis. Die Psychologie des Bösen. Bastei Lübbe, Köln 2013. 347 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Der Boom des Kriminalgenres, sei es in Form von Romanen oder filmischen Produktionen, offenbart ein allgemeines Interesse am Phänomen kapitaler Verbrechen. Dabei scheint die merkwürdige Faszination des Abgründigen und Abstoßenden für die Konsumenten noch größer zu sein, wenn es sich um True Crime handelt, also um die Präsentation nicht fiktiver, sondern realer Straftaten.

 

Zur großen Zahl jener, die dieses Bedürfnis des Marktes erkannt haben und geschickt zu nutzen wissen, gehört auch die laut Wikipedia 1982 als E. C. Wawrzyniak in Bytom in Polen geborene Psychologin und Psychotherapeutin Lydia Benecke. 2011 war sie als Ko-Autorin ihres damaligen Ehegatten, des Kriminalbiologen und forensischen Entomologen Mark Benecke, an der Publikation von „Aus der Dunkelkammer des Bösen. Neue Berichte vom bekanntesten Kriminalbiologen der Welt“ beteiligt, vor wenigen Wochen erschien ihr bislang letztes Buch, „Sadisten. Tödliche Liebe – Geschichten aus dem wahren Leben“ (2015).

 

„Auf dünnem Eis“ hat es, ebenso wie „Aus der Dunkelkammer des Bösen“, zu einer Placierung in der „Spiegel“-Bestsellerliste gebracht. Neben dem auch hier geschickt gewählten, plakativen Titel und der in den Medien gerne präsenten, schillernden Persönlichkeit der Verfasserin, die unter anderem in einer Sozialtherapeutischen Anstalt des Strafvollzugs mit Sexual- und Gewaltstraftätern arbeitet und sich unkonventionell zur Gothic-Subkultur bekennt, ist wohl die populärwissenschaftliche Konzeption der Schrift in erster Linie für deren Erfolg verantwortlich. Sie äußert sich in einer durchgängig guten Lesbarkeit und Verständlichkeit, in der oft direkten Ansprache des Lesers (z. B. S. 361: „Vielleicht denken Sie jetzt…“) und in der collageartigen Verschränkung von konkreten Fallbeispielen mit allgemeinen Erkenntnissen der Psychologie.

 

Das inhaltliche Hauptanliegen der Verfasserin ist die Darlegung der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der forensischen Psychotherapie. Sie wendet sich gegen Klischeevorstellungen vom Psychologen als einem naiven Gutmenschen, der unerschütterlich an die Therapierbarkeit jedes Straftäters glaubt, und hält ihnen am Beispiel der Psychopathie die wissenschaftlichen Methoden der Testung, Begutachtung und Therapie entgegen. Mit Hilfe dieses Instrumentariums sei es möglich, einem erheblichen Teil auch schwerster, aber therapiebereiter Straftäter in langfristiger Therapiearbeit ihre Defizite bewusst zu machen und ihnen Werkzeuge an die Hand zu geben, die sie in die Lage versetzen, mit diesen Defiziten so umzugehen, dass von ihnen keine Gefahr mehr für andere Menschen ausgeht. „Jene, bei denen es nicht möglich ist, müssen ihr Leben lang eingesperrt bleiben. Doch das sind die wenigsten“ (S. 71). Statistiken belegen, dass das Risiko eines Rückfalls je nach Tätergruppe unterschiedlich bewertet wird; hundertprozentige Sicherheit könne es ebenso wenig geben, wie auch der Ausbilder eines Piloten nie mit Sicherheit voraussagen könne, dass der von ihm nach bestem Wissen und Gewissen geschulte Flieger niemals einen Flugfehler machen wird.

 

Ein besonderer Fortschritt in der Diagnose von Psychopathie sei dem kanadischen Kriminalpsychologen Robert D. Hare zu verdanken, der zunächst zur Untersuchung nordamerikanischer Strafgefangener eine in fünf Oberbereiche gegliederte Checkliste („Was Psychopathen von anderen Menschen unterscheidet: 1. Wie sie sich selbst sehen und sich anderen Menschen gegenüber verhalten. 2. Wie und was sie fühlen. 3. Wie sie ihr Leben gestalten. 4. Wie sie seit ihrer Kindheit zu kriminellem Verhalten neigen. 5. Wie sie ihr Sexual- und Liebesleben gestalten.“, S. 157) mit insgesamt 20 Charakter-Bausteinen erarbeitet hat (Psychopathy Checklist PCL, 1991 modifiziert als Psychopathy Checklist Revised PCL-R). Während die männliche Durchschnittsbevölkerung Psychopathie-Werte unter zehn Prozent aufweise, hätten weltweite Untersuchungen mittlerweile ergeben, „dass 10 bis 20 % aller Straftäter Psychopathie-Werte von 75 % und mehr erreichen. Sie sind also eindeutig ‚stark ausgeprägte‘ Psychopathen. Hare zufolge sind diese höchstens 20 % psychopathischer Gefängnisinsassen verantwortlich für mehr als die Hälfte der allerschwersten Verbrechen wie Mord und wiederholte Vergewaltigung“ (S. 153). Die Absenz von Mitgefühl wie von Schuldgefühlen seien die hervorstechendsten Merkmale psychopathischer Straftäter.

 

Ihre Dämonisierung weist Lydia Benecke strikt zurück, indem sie – auch anhand von Fallbeispielen und Gesprächen – immer wieder veranschaulicht, dass nicht jeder psychopathische Mensch zwangsläufig kriminell wird und umgekehrt nicht jeder Kriminelle ein Psychopath ist. Eine ungünstige genetische Disposition im Verein mit einer traumatisch erlebten Kindheit sei die häufigste Ursache für schwere psychische Störungen und daraus resultierende Devianz. Dies expliziert die Verfasserin unter anderem auch am Beispiel ihrer eigenen Person, wenn sie von der Begegnung mit einem etwa gleichaltrigen Strafgefangenen, der als Missbrauchsopfer eine Pädophilie entwickelte und selbst zum Täter wurde, berichtet: „Der junge Mann, der mir als Opfer und Täter zugleich gegenüberstand, erzeugte in mir etwas, das ich in diesem Job sonst nur sehr selten empfinde: ein auf mich selbst abfärbendes Gefühl. Mir wurde klar, dass nur einige Zufälle in unseren teils so ähnlichen Lebensgeschichten dafür sorgten, dass er schließlich als Täter im Gefängnis landete, ich dagegen als angehende Psychologin, die mit solchen Tätern arbeiten wollte. Man hätte nur zwei Merkmale [Aufenthaltsort und Geschlecht, WA] in unseren Lebensgeschichten austauschen müssen, und wir hätten bei unserer Begegnung auf der jeweils anderen Seite gestanden“ (S. 80). Ihr Credo, die scheinbare Gewissheit der Kategorien von „Gut“ und „Böse“ zu relativieren, unterstreicht sie ferner mit einigen klassischen Gedankenexperimenten zur Gewissensentscheidung, wie sie in ähnlicher Form übrigens auch Jurastudenten im Zusammenhang mit der Veranschaulichung der Rechtfertigungsgründe im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches durchzuexerzieren pflegen. Darüber hinaus soll Zahlenmaterial die durch übertriebene Medienberichte häufig verzeichnete Realität zurechtrücken und aufzeigen, „wie sehr die ‚gefühlte‘ Gefahr von der wirklichen abweicht: Zwischen 1999 und 2007 wurden [in Deutschland] durchschnittlich 5,6 Kinder im Jahr während eines Sexualverbrechens bewusst oder leichtfertig vom Täter getötet. Zum Vergleich: Zwischen 2002 und 2007 starben durchschnittlich 164 Kinder im Jahr durch Unfälle im Straßenverkehr, und durchschnittlich 30.731 wurden verletzt“ (S. 102).

 

Obwohl die Darstellung noch optimierbar erscheint – die Schilderung des Falles des psychopathischen Serienmörders Rodney Alcala im Eingangskapitel fällt mit fast 40 Druckseiten sehr ausführlich aus, das letzte Drittel des Bandes (ab Kapitel 6) wirkt inhaltlich weniger klar strukturiert als die ersten beiden – , wird man der vorliegenden populären, aber nicht trivialen, kapitelweise mit Literatur- und Quellennachweisen (Internet, Videos) dokumentierten Schrift ihrer allgemeinen Verständlichkeit und ihres aufklärerischen Charakters wegen weitere Verbreitung wünschen können, nicht zuletzt auch als humanitäres Korrektiv gegen unreflektierte Biertischhetze und im Fall des Falles immer wieder laut werdende Rufe nach einer verschärften (Anlass-)Gesetzgebung oder der Todesstrafe.

 

Einen Grund für den Rezensenten, das Buch an diesem Ort zu besprechen, liefern nicht zuletzt die bemerkenswerten Parallelen, die die Verfasserin zwischen Psychopathie und der Rechtswissenschaft herstellt. Sie rekurriert dabei auf die von ihr im Buch dargestellten, von den Jurastudenten Nathan Leopold und Richard Loeb in den USA an Robert Franks sowie von dem Rechtswissenschaftler Dr. Salvatore Ferraro und dem Doktoranden Giovanni Scattone in Rom an der Studentin Marta Russo begangenen Tötungsverbrechen: „Auffallend […], dass alle vier Täter das gleiche Fach studierten. Aber Jura ist, aus ‚psychopathischer Sicht‘, keine abwegige Studienwahl. Erstens eröffnet es einem guten Studenten glänzende Karriereoptionen, die Aussicht auf Ansehen, Macht und Geld. Zweitens fordert Jura vor allem das logische, abstrakte Denken sowie das Erkennen und Anwenden von Regeln, also von ‚psychopathischen Gehirnen‘ stark benutzte Hirnbereiche. Drittens haben Studenten in diesem Studienfach mit Verbrechen zu tun. Besonders die Beschäftigung mit schweren Verbrechen bietet aber viel Abwechslung, ist also ein gutes Mittel gegen Langeweile. Und Psychopathen hassen schließlich kaum etwas mehr als Langeweile. […] Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei derartig ähnliche Psychopathen-Exemplare sich ausgerechnet an einer Fakultät begegnen, (ist) nicht besonders groß. Doch sie ist in diesem Studienfach auf jeden Fall größer als in anderen“. Womit sie jedoch, wie sie abschließend versöhnlich und doch ein wenig unbeholfen - eine derartige Pauschalierung hätte ihre eigene Argumentationslinie völlig konterkariert - anzumerken bemüht ist, „nicht behaupte, dass Juristen grundsätzlich Psychopathen sind“ (S. 321).

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic