Becker, Philipp, Süddeutsche Lehenrechtsgesetzgebung im 19. Jahrhundert. Das Lehenwesen und die Mobilisierung des Grundeigentums (= Rechtsordnung und Wirtschaftsgeschichte 12). Mohr (Siebeck), Tübingen 2014. XIX, 231 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Das dem römischen Recht als solches unbekannte Lehen ist im Frühmittelalter aus inzwischen im Gegensatz zu früher nicht mehr so sicher angesehenen Wurzeln in einem wohl weitgehend mündlichen Umfeld entstanden und im 19. Jahrhundert in möglicher Parallele zur Pandektisierung des Rechtes aufgegeben wurden. Deswegen befasst sich die wissenschaftliche Forschung mit ihm auch nur noch ziemlich selten. Eine bedeutsame Ausnahme bildet die vorliegende Untersuchung.

 

Sie wurde als Abschluss einer fast sechs Jahre währenden Tätigkeit Beckers am Institut des ihn wesentlich prägenden Betreuers Mathias Schmoeckel im Wintersemester 2013/2014 von der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bonn als Dissertation des 1987 geborenen, von der Studienstiftung des deutschen Volkes geförderten Verfassers unter dem  Titel „‚ und es trat der Credit an die Stelle des Lehnrechts? Süddeutsche Lehenrechtsgesetzgebung im 19. Jahrhundert“ angenommen und für die Drucklegung insbesondere unter Einbeziehung der Untersuchung Hartmut Fischers über die Auflösung der Fideikommisse und anderer gebundener Vermögen in Bayern nach 1918 leicht überarbeitet. Ihr ursprünglicher Titel nahm fragend Bezug auf die Schlussworte der 1819 erschienenen belletristischen Erzählung Achim von Arnims über die Majoratsherren, die keine rechtshistorischen Bezüge im engeren Sinn hat, aber doch den Untergang des Lehenswesens und die Entstehung des modernen Immobiliarsachenrechts im 19. Jahrhundert nebeneinanderstellt. Von daher lässt sich die Frage überprüfen, ob der Untergang einerseits und die Entstehung andererseits in irgendeinem Kausalitätsverhältnis zueinander stehen.

 

Der Verfasser leitet nach einem einfachen Verzeichnis überwiegend gängiger Abkürzungen  und einem Verzeichnis der von ihm angefertigten 12 interessanten Tabellen und zweier Abbildungen der beiden Seiten des Reverses für den Lehenkörper Allertshausen vom 1. März 1918  in seine Abhandlung durch eine Einführung über Lehenwesen im 19. Jahrhundert, Mobilisierung des Eigentums an Grund und Boden und die Fragestellung nach Wechselwirkungen zwischen der Mobilisierung des Grundeigentums und dem Schicksal des Lehenwesens, Eingrenzung der Fragestellung, Forschungsstand, Gang der Darstellung, Methodenfragen, Quellen und Details zur Arbeitsweise der Untersuchung ein. Danach betrachtet er Gestalt und Bedeutung des Lehenwesens im 19. Jahrhundert, wobei er für Bayern für 1848 1086 Lehenkörper mit der Qualität eines Kanzleilehens vor allem in Franken und Schwaben und etwa 19 Lehenkörper mit der Qualität eines Thronlehens ermittelt, für Baden 1817 gut 400 Lehnkörper hochrechnet (1856 163 Lehenkörper mit 177 Lehenbeziehungen), für Württemberg 1811 118 Lehensbeziehungen, 1819 590 Lehenkörper?, um 1840 474 Lehenkörper, 1850 416, 1854 412, 1857 298, 1873 139 und für Hessen-Darmstadt 1817 (vermutlich unvollständig) 42 Lehenbeziehungen mit sehr wahrscheinlich mehr als 93 Lehenkörper sowie 1844 83 Lehenbeziehungen mit 209 Lehenkörper. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts errichtete Lehnsbeziehungen bildeten in den untersuchten Staaten eine sehr seltene Ausnahme (wohl meist Dotationslehen).

 

Nach den Feststellungen des Verfassers machten Lehenobjekte mit Immobilien dabei gut die Hälfte bis zwei Drittel aller Lehenobjekte aus, während nur knapp ein Drittel der Lehennehmer ganz ohne lehenrechtlich gebundenes Grundeigentum dastand, so dass Immobiliarvermögen eine zentrale Rolle für das Lehenwesen des 19. Jahrhunderts bildete. Dominiert ist das Lehenwesen von Lehenbeziehungen zu Adeligen. Insgesamt nur noch ein winziger Bruchteil des „Grundbesitzes“ war im 19. Jahrhundert einer lehenrechtlichen Bindung unterworfen, die sich nach den Grundsätzen des adeligen Lehenwesens richtete (Bayern schätzungsweise 1,2 Prozent bei insgesamt 6 bis 7 Prozent aller Grundflächen Altbayerns in den Händen Adeliger)., wobei sich der Lehennehmer als Alleineigentümer des Lehenkörpers fühlte und die Folgen der lehenrechtlichen Bindung kaum mehr wahrnahm, weshalb es dem Lehenwesen nach Ansicht des Verfassers an sozialer Brisanz fehlte.

 

Im Anschluss an diese sehr interessanten Ermittlungen verfolgt der Verfasser sehr detailliert und sorgfältig die bayerische Lehenrechtsgesetzgebung, die badische Lehenrechtsgesetzgebung, die württembergische Lehenrechtsgesetzgebung und die hessische Lehenrechtsgesetzgebung. Danach betrachtet er den tatsächlichen Verlauf der Allodifizierung in den einzelnen Staaten. Dabei unterscheidet er überzeugend zwischen den einzelnen Staaten.

 

Nach seiner einleuchtenden Zusammenfassung verdrängte gegenüber der eingangs genannten Frage nicht der Credit das Lehenrecht, sondern die Regeln des Fideikommissrechts. Dadurch, dass zwar die vertikale Wirkung lehenrechtlicher Eigentumsbindungen zum größten Teil noch im Laufe des 19. Jahrhunderts restlos beseitigt wurde, die Lehenrechtsgesetzgebung die horizontale Wirkung aber  (außer in Hessen-Darmstadt) fortbestehen ließ, verwandelte sich ein Großteil der Lehenkörper  in ein Gebilde, das der Sache nach den „Verschnitt“ eines Familienfideikommisses darstellte. Regelmäßig bestand für den Lehennehmer keine Möglichkeit, den Lehenkörper ohne weiteres zu veräußern.

 

Insgesamt fand demnach eine tiefgreifende Mobilisierung lehenrechtlich gebundenen Eigentums im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht statt. Die Verfügungsfreiheit des Lehennehmers nahm also nicht zu. Die Freiheiten eines modernen Immobiliarsachenrechts traten vollumfänglich erst infolge des Endes der Monarchien im Jahre 1918 an die Stelle lehenrechtlicher Eigentumsbindungen oder ihrer Überreste.

 

Für die Zeit seit 1848 sieht der Verfasser die späte bayerische Lehenrechtsgesetzgebung angesichts des geringen verbleibenden Bedeutung des Lehenswesens eher als Verklärung eines älteren Zustands denn als zukunftswesenden Beitrag zur Gestaltung des Lehenswesens an. Ihre funktionale Bedeutung habe sich auf eine von Reminiszenzen geprägte Politik reduziert. Sinnbildlich entspreche sie dem Bau des Schlosses Neuschwanstein.

 

Auffällig sind neben diesen wichtigen Ausführungen zwei Kleinigkeiten. So soll Bayern eine Fläche von rund 76000 Quadratmetern gehabt haben, Württemberg rund 20000 Quadratmeter, Baden rund 15000 Quadratmeter und Hessen-Darmstadt rund 8000 Quadratmeter, was sich nicht recht glauben lässt. Ungewöhnlich nimmt sich auch die Unterscheidung zwischen Primärquellen und Sekundärquellen samt der eher verwirrenden Voranstellung der Vornamen in den entsprechenden, nach den Anfangsbuchstaben der Familiennamen geordneten Verzeichnissen aus.

 

Innsbruck                                                                              Gerhard Köbler