Baumann, Anette, Die Gutachten der Richter. Ungedruckte Quellen zum Entscheidungsprozess am Reichskammergericht (1524-1627). Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Wetzlar 2015. 24 S. Angezeigt von Gerhard Köbler.
Alle menschlichen Entscheidungen fallen in einem gedanklichen Vorgang, der seine eigene Geschichte hat. Soweit er sich auf einen einzelnen Menschen beschränkt, kennt nur der Betreffende selbst das Geschehen, ohne dass es ihm in jeder Hinsicht bewusst zu sein braucht. Außenstehende können dazu nur eigene ungefähre nachträgliche Mutmaßungen abgeben.
Soweit Entscheidungen im Zusammenwirken mehrerer Menschen getroffen werden, sind Äußerungen erforderlich, auf deren Grundlage die Entscheidung fällt, ohne dass stets alle Überlegungen auch offengelegt werden. Gerichtliche Entscheidungen sind in der Gegenwart grundsätzlich zu begründen, ohne dass die Begründung im Kern das ausschlaggebende innere Motiv zu eröffnen braucht, wenn nur wenigstens irgendeine nachvollziehbare Begründung der Umwelt zur Verfügung gestellt wird. Für die Vergangenheit stellt nach der zutreffenden Ansicht der Verfasserin die Erforschung des richterlichen Entscheidungsprozesses des Reichskammergerichts nach wie vor ein großes Forschungsdesiderat dar, wobei die Richterprotokolle oder persönlichen Notizen der Richter von besonderem Interesse sein müssen.
Wie die Verfasserin sachkundig darlegt, beruhte die dem Urteil des Reichskammergerichts vorausgehende Relation oder das so genannte Gutachten auf wissenschaftlichen Regeln und Methoden, die eine Überprüfung der Urteile durch andere ermöglichten und die Gründe für das Urteil enthielten. Die Richter arbeiteten die aus Sachbericht, Gutachten und Votum bestehenden Relationen schriftlich aus und trugen sie in der jeweiligen Senatssitzung vor. Dem Referieren und möglichen Meinungsäußerungen der Senatsmitglieder folgte die Stimmabgabe, bei der die anderen Senatsmitglieder dem Entscheidungsvorschlag des Referenten meist folgten, aber bei Meinungsverschiedenheiten letztlich die Mehrheit entschied.
Die gut zugänglichen Akten des Reichskammergerichts aus den Jahren von 1495 bis 1806 unterrichten überwiegend nur bis zu dem Beginn der Beratung. Über die eigentliche Urteilsfindung, die erstellten Gutachten und die Urteile ist demgegenüber jedenfalls für das 16. Jahrhundert wenig bekannt, weil nur einige gedruckte Gutachten und Urteile überliefert sind, weil die anderen bei der Zerstörung Speyers in dem pfälzischen Erbfolgekrieg (weitgehend) vernichtet wurden. Vor kurzer Zeit konnte allerdings die Verfasserin 46 von Richtern persönlich geschaffene Notizen aus den Jahren zwischen 1524 und 1627 ermitteln.
Der überwiegende Teil der erschlossenen Quellen stammt aus dem Bestand Altes Reich, Miscellanea in dem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde mit gebundenen oder ungebundenen Bänden einzelner Richter mit Relationen und Voten sowie Aktenabschriften, wobei der größte Teil der Schriften anonym ist. Weitere Handschriften befinden sich in dem Staatsarchiv Nürnberg, dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover, der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und der Herzog August Bibliothek in Hannover. Auf ihrer Grundlage wurde zunächst ein Findbuch als Text und Datenbank erstellt, das Kennenlernen und Erforschen der neu ermittelten Quellen ermöglicht.
Die auch online verfügbare Datenbank (http://www.reichskammergericht.de/forschungsstelle.htm) fand umgehend das Interesse eines ausgewiesenen Sachkenners. Vorweg kann jedoch der Herausgeber auf die vorliegende Publikation hinweisen. Ihr ist erfreulicherweise eine CD-ROM beigegeben, mit deren Hilfe jedermann sich dem Entscheidungsvorgängen im Reichskammergericht besser nähern kann, als dies bisher der Fall war.
Innsbruck Gerhard Köbler