Baranowski, Günter, Russische Rechtsgeschichte - Texte und Erläuterungen. Teil 1 Von den Anfängen bis 1612/1613 (= Rechtshistorische Reihe 439). Lang, Frankfurt am Main 2013. 544 S., CD-ROM, Teil 2 Von 1613 bis 1682 (= Rechtshistorische Reihe. 451). Lang, Frankfurt am Main, 2015. 745 S., CD-ROM.  Besprochen von Inge Bily.

 

 

Günter Baranowski[1], ausgewiesener Kenner der russischen Rechtsgeschichte, der bereits mehrere Editionen russischer Rechtstexte mit von ihm selbst vorgenommenen Übersetzungen dieser Texte ins Deutsche vorgelegt hat, stellt nun eine zweibändige Untersuchung vor, die auf umfangreicher Textgrundlage wesentliche neue Erkenntnisse zur russischen Rechtsgeschichte des untersuchten Zeitraumes liefert.

 

Beweggrund für das äußerst mühsame Unterfangen, eine große Menge an Schriftgut aufzuarbeiten, das im beginnenden 11. Jh. mit dem Kirchenstatut Vladimirs seinen Anfang nahm, „ist das nicht zu übersehende Defizit an solchen Übersetzungen im deutschsprachigen Raum.“[2]

 

Als Grundlage des Untersuchungsgebietes wählt G. Baranowski einen engen Begriff von russisch und Russland, der die weißrussische und ukrainische Ausprägung nicht einbezieht. Die Kiev-Novgoroder Rus’ erachtet er als gemeinsamens historisches Erbe der ostslavischen Ethnien und betont, „Für die Zeit danach nehme ich die Nordöstliche Rus’ um Moskau und den Nordwesten mit Velikij Novgorod und Pskov als jene Territorien an, in denen sich die Rechtsquellen der Russen oder die russischen Rechtsquellen ausprägen.“

[3]

Bei der Auswahl der Texte stützt er sich überwiegend auf die großen russischen Quellenausgaben nebst Kommentaren, die seit den 1940er Jahren erschienen sind. Weiterhin greift er auf separate Editionen und Kommentierungen zurück, hier insbesondere zum Sobornoe Uloženie [Reichsgesetzbuch]. Für die Texte nach 1649 bis 1682 nutzt er zudem die ersten beiden Bände der Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii [Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches] von 1830.

 

Nachdem der erste Teil den Zeitraum von den Anfängen bis 1612/13 behandelt, beginnt der zweite Teil mit der Gesetzgebung des Zaren Michail Fedorovic (1613) und endet mit der Aufhebung der Rangplatzordnung des Adels durch den Zaren Fedor Alekseevič (1682). Gleichzeitig markiert das Jahr 1682 den Beginn der Herrschaftszeit des Zaren Peter I.

 

Beide Bände (Teil 1 Nr. 439 und Teil 2 Nr. 451) mit chronologisch angeordneten und durchnummerierten Rechtstexten als Kernstück und Grundlage der Auswertung bilden eine Einheit. In den zusammen 6 Kapiteln beider Bände sind jeweils die Rechtsakte mit allgemeinverbindlichem Rang (Gesetze, Sammlungen, zentrale Beschlüsse) (Haupttexte) enthalten, in den Beilagen (Nebentexte) die privatrechtlichen Texte, auch einige Urteile und Einzelentscheidungen. Jedem Band liegt eine CD-ROM mit artikelweisen Erläuterungen zu einzelnen Texten bei.

 

Durch die Nummerierung der Texte in Kapiteln und Beilagen sind Quervergleiche und Querverweise gut möglich.

 

Ein jedes Kapitel enthält neben den Rechtstexten jeweils eine Überblicksdarstellung zum untersuchten Zeitraum sowie Ausführungen zu den Besonderheiten der vorgestellten Texte, einschließlich ihrer historischen Einordnung. In die Anmerkungen zu zahlreichen Textstellen werden weitere Rechtstexte referierend einbezogen, wodurch der jeweilige Einzeltext in einem größeren Kontext vorgestellt werden kann.

 

Teil 1 (= Nr. 439) behandelt in den Kapiteln I-III den Zeitraum von den Anfängen der russischen Rechtsgeschichte bis zum Jahre 1612/1613. Den 3 Kapiteln vorangestellt sind Inhaltsverzeichnis (S. 5-7) und Abkürzungsverzeichnis (S. 8), weiterhin Vorbemerkungen (S. 9-12) sowie eine Einführung zu den Anfängen des russischen Rechtes (S. 13-18). Kapitel I (S. 19-97, Texte 1-7) enthält Texte aus der Zeit der Kiever Rus’ und ihres Zerfalls (11. Jh.-1240), Kapitel II (S. 98-240, Texte 8-27) Texte aus der Zeit der beginnenden „Sammlung der russsischen Länder“ durch Moskau (1240-1471) und Kapitel III (S. 241-477, Texte 28-70) Texte aus der Herrschaftszeit des Moskauer Großfürsten Ivan III. bis zur Zeit der „Wirren“ (1462-1612/1613). Es folgen die Beilagen 1-16 (S. 478-494), ein Glossar der in den Texten nicht übersetzten Ausdrücke (S. 495-515) sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 516-544). Eine beiliegende CD-ROM enthält Artikel-Kommentare zu den Texten [2] Kurze Pravda, [4] Erweiterte Pravda, [26] Gerichtsurkunde von Pskov, [34] Sudebnik 1497 und [39] Sudebnik 1550 sowie Anmerkungen zu den Beilagen.

 

Teil 2 (= Nr. 451) behandelt in den Kapiteln IV-VI den Zeitraum von 1613 bis 1682. Auch hier sind Inhaltsverzeichnis (S. 5-11) und Abkürzungsverzeichnis (S. 13) sowie Vorbemerkungen (S. 15-18) den 3 Kapiteln vorangestellt. Kapitel IV (S. 19-175, Texte 71-128) enthält Texte aus der Herrschaftszeit der Romanovs bis 1647, Kapitel V (S. 177-401, Texte 129-134) Texte zum Reichsgesetzbuch (Sobornoe Uloženie) – Vorbereitung und Ergebnis und Kapitel VI (S. 403-657, Texte 135-144) Texte vom Reichsgesetzbuch bis 1682. Es folgen Schlussbemerkungen (S. 659-661), die Beilagen 17-50 (S. 663-696), Glossar (S. 697-718) und Literaturverzeichnis (S. 719-740) sowie das Inhaltsverzeichnis von Teil 1 (S. 741-745). Auch dem zweiten Band liegt eine CD-ROM bei. Sie enthält Artikel-Kommentare zu den Texten [134] Sobornoe Uloženie von 1649, [137] Neues Handelsstatut (1667) und [138] Neuangewiesene Artikel über Diebstahls-, Raub- und Totschlagssachen (1669) sowie Anmerkungen zu den Beilagen dieses Bandes.

 

Wie schon bei seinen früheren Editionen und Publikationen zum russischen Recht bleibt G. Baranowski, der alle Texte selbst übersetzt, möglichst nahe an der russischen Vorlage und hat dabei den hohen Anspruch, dass die Rückübersetzung ins Russische möglichst sehr ähnliche Texte ergeben sollte, vor allem in ihrer juristischen Relevanz.[4] Wegen des ohnehin schon großen Umfangs der Bearbeitung können jedoch diesmal die russischen Originalvorlagen der übersetzten Texte leider nicht mit abgedruckt werden. Über die Angaben zu den Fundstellen wird der Benutzer aber zu den russischen Originalen geführt und kann sich so selbst ein Bild machen. Auch versieht G. Baranowski seine Übersetzungen dort, wo es ihm angezeigt erscheint, mit Anmerkungen und z. T. längeren Kommentaren. Die zahlreichen russischen Einschübe als Erläuterungen im Fließtext sind ausgesprochen nutzerfreundlich, denn sie sorgen für ein hohes Maß an Verständlichkeit. Zur Anwendung kommt konsequent die wissenschaftliche Transliteration, die bekanntlich eine vollständige Rückübertragung von der Latinica in die Kyrillica ermöglicht, vgl. Car, Rus’ usw.

 

Wie schon ihre Vorgänger, so sind auch diese beiden Bände G. Baranowskis sehr zu empfehlen, und zwar nicht nur dem Rechtshistoriker, der sich mit der russischen Rechtsgeschichte beschäftigt. Der Wert fundierter Quellenforschung wird hier erneut deutlich vor Augen geführt. Aufbauend auf gesichertem Material erfolgen zielgerichtet und systematisch Analysen, die anschließend zu Synthesen zusammengeführt werden. Die Untersuchung und Auswertung einer so großen Zahl von Texten erlaubt gesicherte Schlüsse, die deutlich über bisherige Ausführungen in Handbüchern zu Untersuchungsgebiet und Untersuchungszeit hinausgehen. Künftige Darstellungen zur Rechtsgeschichte Russlands bzw. des ostslawischen Raumes können und müssen an diese Erkenntnisse anknüpfen.

 

Es war für G. Baranowski kein leichtes Unterfangen, die hier zusammengefassten historischen russischen Rechtstexte mit ihrer inhaltlichen Spezifik und ihren zahlreichen Termini, für die es bisher keine deutschen Äquivalente gibt, in modernes Deutsch zu übertragen und sie mit Hilfe von Anmerkungen zu einzelnen Textstellen wie auch erklärenden Umschreibungen im Text so aufzubereiten, dass sie von (Rechts-)Historikern genutzt werden können. Besonders bei den spezifischen historischen und juristischen Termini, zu denen es keine deutschen Äquivalente gibt, sind die beiden Glossare unentbehrliche Hilfsmittel.

 

Wo immer G. Baranowski auf die sprachhistorischen Besonderheiten des untersuchten Gebietes zu sprechen kommt, kann ihm Kompetenz und sicherer Umgang mit den einschlägigen Arbeiten bescheinigt werden, bis hin zur bereits erwähnten konsequenten wissenschaftlichen Tansliteration. Auch bei der Wahl deutscher Entsprechungen beweist G. Baranowski eine große Sprachkompetenz, seien es nun Termini, Titel von Rechtstexten oder ganze Texte. Bei seinen Übersetzungen bleibt er „sehr nahe am Wort“[5] und kann so anhand der untersuchten Texte die Herausbildung einer russischen Fachsprache des Rechtes verfolgen.

 

So hat G. Baranowski auf einem ihm bestens vertrauten Arbeitsfeld zu einer überaus anspruchvollen Thematik erneut ein beachtliches Ergebnis vorgelegt, und dies bei der gezielten Auswahl repräsentativer Texte, bei deren gelungener Übersetzung, bei der Schaffung zweier hilfreicher, textbezogener Glossare und nicht zuletzt bei der nutzerfreundlichen Anlage der Untersuchung sowie der Aufbereitung des Materials für eine zusammenfassende Auswertung. Bei all dem wurden die Ergebnisse aus den früheren Studien zu russischen Rechtstexten systematisch einbezogen.

 

Als Fazit ist u. a. festzuhalten, dass der Einfluss fremder Rechte im untersuchten Gebiet und Zeitraum begrenzt war. G. Baranowski betont die Eigenheiten, durch die Russland geprägt war, und zwar in wirtschaftlich-sozialer, staatlich-politischer und geistig-kultureller Hinsicht. Es sind diese „Eigenheiten, die den Unterschied zu den Entwicklungen in Nordeuropa und Westeuropa deutlich erscheinen lassen“[6]. Und weiter heißt es, „Die weltliche Macht in Russland […] setzte von Anfang an auf Eigenständigkeit, auf eigene Traditionen, eigene Gewohnheiten, war Fremdem gegenüber eher misstrauisch und abhold“[7]. Und er stellt bereits in seinen Vorbemerkungen zu Teil 1 fest, „dass das altrussische Recht ein über weite Zeitläufe hinweg ursprüngliches Recht ist, ein Recht ohne theoretische Reflexionen […], das sich, im Verbund mit den Gewohnheitsrechten, vor allem in der Tätigkeit der höchsten Ämter und ihrer Träger ausbildet, zunehmend seit dem 14. Jahrhundert, […] und sich in der Volkssprache ausdrückt. […] Erst im 18. Jh. setzt eine rechtswissenschaftliche Ausbildung in Russland ein.“[8]

 

Auch auf künftige Aufgaben richtet G. Baranowski den Blick, denn auch die Rechtstexte für die Zeit ab 1682 gilt es aufzuarbeiten, selbstverständlich quellenbasiert, denn „Rechtsgeschichte ohne Rechtstexte löst sich von ihren Voraussetzungen.“[9]. Hauptanliegen des Autors ist es, „den Texten das Primat zukommen zu lassen“ [10]. Und er betont weiter, „Die repräsentativen Texte gehören zu den unverzichtbaren Grundlagen, um eine Geschichte des Rechts zu schreiben. Darüber hinaus bedarf es genauerer Analysen und Verallgemeinerungen der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Gegebenheiten, auch, was am schwersten ist, der Rechtswirklichkeit. […] Dies halte ich für notwendig, um eine fundierte Russische Rechtsgeschichte ohne Einschränkungen ausarbeiten zu können, die auch die Dynamik der einzelnen juristischen Kategorien in diesem oder jenem Zeitabschnitt mehr Aufmerksamkeit widmet.“ [11]  

 

Leipzig                                                           Inge Bily



[1] Günter Baranowski, Zum Abgaben- und Gebührenwesen in der Kiever „Rus”. In: Gerhard Lingelbach (Hrsg.), Staatsfinanzen, Staatsverschuldung, Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 1-22; Ders., P. J. A. Feuerbach und die Arbeit der „Gesetzkommission“ des Russischen Reiches. In: Rolf Gröschner, Gerhard Haney (Hrsg.), Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1775-1833) für die Gegenwart. IVR-Tagung Jena 15. und 16. März 2002. Stuttgart 2003, S. 168-185; Ders., Die Russkaja Pravda als Rechtsdenkmal. In: Rudolf Jaworski, Jan Kusber, Ludwig Steindorff (Hrsg.), Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheit auf dem Prüfstand (= Kieler Werkstücke. R. F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte. 6). Frankfurt a. Main 2003, S. 117-137; Ders., Symptome des „starken Staates“ in der Herrschaftszeit von Katharina II. bis Nikolaus I.. In: Rußland: Ein starker Staat? Protokollband einer Tagung des Thüringer Forums für Bildung und Wissenschaft e. V. vom 9. November 2002 in Weimar (= Schriftenreihe Europäisches Denken. H. 3). Jena 2003, S. 17-28; Ders., Die Russkaja Pravda - ein mittelalterliches Rechtsdenkmal (= Rechtshistorische Reihe. 321). Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2005; Ders., Rußlands Gesetzgebung im Spannungsfeld von Bewahrung und Modernisierung: der Svod zakonov von 1832. In: Jörg Wolff (Hrsg.), Kultur- und rechtshistorische Wurzeln Europas. Arbeitsbuch (= Studien zur Kultur- und Rechtsgeschichte. 1). Mönchengladbach 2005, S. 277-296; Ders., Feuerbachs Vorschläge für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft in Russland. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 29, 1/2 (2007), S. 1-17; Ders., Die Gerichtsurkunde von Pskov (= Rechtshistorische Reihe. 364). Frankfurt a.M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2008; Ders., Der Entwurf einer Verfassungsurkunde für Russland von 1804. In: Gerald Kohl, Christian Neschwara, Thomas Simon (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Brauneder zum 65. Geburtstag. Rechtsgeschichte mit internationaler Perspektive. Wien 2008, S. 11-27; Ders., Der Entwurf einer russischen Verfassung von 1820. In: Elemér Balogh, Mária Homoki-Nagy (Hrsg.), Emlékkönyv Dr. Ruszoly József egyetemi tanár. 70. születésnapjára (= Acta Universitatis Szegediensis. Acta Juridica et Politica. Tomus LXXIII, Fasciculus 1-64). Szeged 2010, S. 97-118.

[2] Teil 1, Vorbemerkungen, S. 9.

[3] Ebenda.

[4] Vgl. Teil 2, Vorbemerkungen, S. 16.

[5] Ebenda.

[6] Teil 2, Schlussbemerkungen, S. 660.

[7] Ebenda.

[8] Teil 1, Vorbemerkungen, S. 9.

[9] Ebenda.

[10] Teil 2, Schlussbemerkungen, S. 660.

[11] Ebenda, S. 661.