Angerer, Christian/Ecker, Maria, Nationalsozialismus in Oberösterreich. Opfer. Täter. Gegner (= Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern 6). StudienVerlag, Innsbruck 2014. 421 S., Abb. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Die kürzlich an dieser Stelle veröffentlichte und verfügbare Rezension des vierten, von Heimo Halbrainer und Gerald Lamprecht gestalteten Bandes „Nationalsozialismus in der Steiermark“ der Jugendsachbuchreihe zum Nationalsozialismus in den österreichischen Bundesländern enthält unter anderem eine ausführliche Darstellung der Träger und der Anliegen dieses Projekts sowie der formalen wie inhaltlichen Struktur der Reihe. Eine Wiederholung dieser Ausführungen erscheint in Anbetracht der jederzeitigen Zugriffsmöglichkeit somit wenig sinnvoll, weshalb sich der Rezensent hier nur auf das Wesentliche beschränkt. Die einzelnen Bände dieser vom Verein _erinnern.at_ unter der Schirmherrschaft des österreichischen Bundesministeriums für Bildung und Frauen (BMBF) getragenen Publikation sind inhaltlich nach einer einheitlichen Grundstruktur ausgerichtet, nach der die Spezifika des jeweils behandelten Bundeslandes herausgearbeitet werden. Thematisch spannt sich der Bogen von der Vorgeschichte ab 1918 über den Anschluss Österreichs 1938 zum Alltag unter der nationalsozialistischen Herrschaft, zu den mit ihr einhergehenden Verbrechen und Opfern, dem Widerstand bis hin zur Aufarbeitung und zur Erinnerungskultur von 1945 bis zur Gegenwart. Zahlreiche Zeitzeugenporträts und reichlich eingesetztes Bildmaterial sorgen für die nötige Anschaulichkeit der Darstellung. Als Herausgeber der Reihe erscheint im Auftrag der in Innsbruck habilitierte Zeithistoriker Horst Schreiber, darüber hinaus wacht ein Beirat aus namhaften Wissenschaftlern über die Qualität der vermittelten Informationen. Diese richten sich vor allem an Jugendliche und sollen „die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust im österreichischen Bildungswesen anregen und fördern“, wobei „sowohl die Geschichte als auch die Auswirkungen dieser Geschichte auf die Gegenwart“ in den Blick genommen werden sollen (S. 14). Der vorliegende Band zum Nationalsozialismus in Oberösterreich ist der sechste der Reihe.

 

Oberösterreich erlangte, was die Geschichte des Nationalsozialismus angeht, als „Heimatgau“ Adolf Hitlers unter den österreichischen Bundesländern einen besonderen Stellenwert. Mehr noch als sein Geburtsort Braunau am Inn stand dabei die Landeshauptstadt Linz, wo sich Hitler einst zur Ruhe zu setzen gedachte, im Zentrum des Interesses und im Zeichen weitreichender Planungen. Der Bürgerkrieg des Jahres 1934 zwischen den Vertretern des Ständestaates und der Sozialdemokratie hatte in Linz seinen Ausgang genommen, die Ennsleite in der Industriemetropole Steyr, der Heimatstadt des späteren oberösterreichischen Gauleiters August Eigruber, und das Kohlerevier im Hausruck wurden zu weiteren Brennpunkten der Kämpfe in dem ansonsten weitgehend durch seine bäuerliche Struktur geprägten Land. Nach den Wünschen Hitlers sollte Linz nun „zu einer kulturellen Metropole im Großdeutschen Reich aufsteigen, die mit ihren Kunstschätzen und ihrer monumentalen nationalsozialistischen Architektur Wien in den Schatten stellt“ (S. 108); auf der Grundlage des ihnen von Hitler erteilten „Sonderauftrag(s) Linz“ trugen erst Hans Posse, dann sein Nachfolger Hermann Voss wertvollste Kunstwerke zusammen, um später eine Auswahl für das in Linz zu errichtende „Führermuseum“ zu treffen; bei Kriegsende können diese Bestände vor der beabsichtigten Zerstörung rechtzeitig aus den Stollen des Altausseer Salzbergwerks gerettet werden. Von den hochfliegenden Plänen für Linz werden lediglich „die Nibelungenbrücke und die Brückenkopfgebäude“ realisiert. „Das tatsächliche Bild der Stadt Linz im Nationalsozialismus prägen die Errichtung von Großindustrie, der Wohnbau und die wegen des Bevölkerungswachstums steigende Wohnungsnot, die im Bombenkrieg zerstörte Stadt und die unzureichenden Luftschutzbauten, das Elend der Zwangsarbeiter sowie der KZ-Häftlinge“ (S. 112f.). Als Oberbürgermeister ist seit 1943 der hier geborene Franz Langoth im Amt, mit dessen umstrittener Rolle sich eine der zahlreichen Kurzbiographien des Bandes befasst.

 

Mit dem Konzentrationslager Mauthausen und der im Rahmen der „Euthanasie“-Aktion T4 betriebenen Tötungsanstalt Schloss Hartheim in Alkoven nahe Linz verfügt Oberösterreich über zwei prominente Symbolorte für die Verbrechen der NS-Diktatur; 60 Druckseiten (20 zur „Euthanasie“ und Schloss Hartheim, 40 zum Mauthausen-Komplex) verwenden die Verfasser für deren Kontextualisierung. Zwischen 1938 und 1940 wird das Doppellager Mauthausen-Gusen als das „Konzentrationslager für Österreich“ (Zitat Gauleiter August Eigruber; S. 219) aufgebaut, „die meisten der insgesamt über 40 Außenlager von Mauthausen entstehen ab 1942/43“ (S. 237). Das Sterben im Lager hat vielerlei Ursachen: „Hunger, Erschöpfung und Krankheit“, aber auch „Mordaktionen“ in Form von Übergriffen der Wachmannschaften, medizinischen Experimenten (hier wird auf S. 240 auch der SS-Arzt Aribert Heim genannt, der aus dem steirischen Radkersburg stammt, aber im Band zum „Nationalsozialismus in der Steiermark“ keine Erwähnung findet), Erschießungen, Erhängen und Tötungen mittels stationärer und mobiler Vergasungsanlagen (S. 240f.). Unter den Opfern werden der Priester und Lehrer Johann Gruber sowie der Kommunist und Spitzensportler Otto Pensl durch eigene Kurzbiographien gewürdigt, ebenso die auf einem Bauernhof in Langenstein beschäftigte Johanna Rittenschober als „Augen- und Ohrenzeugin der Ereignisse im KZ Gusen“ (S. 257) und Maria Langthaler, deren Familie im Februar 1945 im Zuge der berüchtigten „Mühlviertler Hasenjagd“ nach 400 entflohenen sowjetischen Mauthausen-Häftlingen zwei der Flüchtigen verbirgt und ihnen so das Leben rettet. Die 1949 eröffnete KZ-Gedenkstätte Mauthausen wird aktuell jährlich von „rund 200.000 Menschen aus dem In- und Ausland“ besucht (S. 354).

 

Als eine der reichsweit sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“ nimmt Schloss Hartheim im Mai 1940 den Betrieb auf. Von 1941 bis 1944 werden in der dortigen Gaskammer „zwischen 7.000 bis 10.000 Menschen ermordet“ (S. 210), Ende 1944 wird die Tötungsanlage zwecks Verwischung aller Spuren abgebaut. Insgesamt sind „60 bis 70 Menschen direkt oder indirekt an der Durchführung der Mordaktionen beteiligt. Viele kommen aus Deutschland, etwa die Hälfte aus der Umgebung des Ortes. Der Linzer Arzt Rudolf Lonauer ist nicht nur Leiter der Tötungsanstalt, sondern auch Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart. Auch seine Sekretärin Helene Hintersteiner ist Oberösterreicherin, ebenso der Büroleiter Franz Stangl, der Koch Hans Wies(n)er, der Autobuschauffeur Franz Hödl, der Fotograf Bruno Bruckner, der Brenner [die Funktionsbezeichnung für die mit der Entfernung der Toten aus der Gaskammer, dem Ziehen der Goldzähne und der Einäscherung der Leichen befassten Mitarbeiter] Vinzenz Nohel und viele mehr. Einige melden sich freiwillig für diese Arbeit, andere werden angeworben, wieder andere dienstverpflichtet. Eine ganze Reihe der Täter aus Hartheim erlangt später in den Vernichtungslagern im Osten traurige Berühmtheit, allen voran Franz Stangl, der als Kommandant von Sobibor und Treblinka die Ermordung von hunderttausenden Juden und Jüdinnen verantwortet“ (S. 206f.). Rudolf Lonauer, der bei Kriegsende sich mit seiner Familie vergiftet, und Helene Hintersteiner werden als Täter wiederum kurzbiographisch näher erfasst, auf der anderen Seite steht die Lebensgeschichte Johann Hocheneders stellvertretend für die Gruppe der in Hartheim ermordeten Patienten. Nach diversen Nachnutzungen kommt Schloss Hartheim erst ab 2003 ausschließlich die Funktion eines Lern- und Gedenkorts zu.

 

Selbstverständlich wurden auch in Oberösterreich Juden sowie Roma und Sinti rassisch verfolgt. Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), war gebürtiger Oberösterreicher, 1932 soll er seinen späteren Judenreferenten und „Organisator des Holocaust“ (S. 298), den seit seinem achten Lebensjahr in Linz lebenden Adolf Eichmann, dort persönlich angeworben haben. Die Geschichte der etwa 800 oberösterreichischen Juden sei bislang weitgehend unerforscht, doch seien „die Namen von knapp über 200 Menschen, die dem Holocaust zum Opfer fallen, bekannt“ (S. 295). Näher vorgestellt werden die in Auschwitz ermordete, jüdischstämmige Krankenschwester Agathe Kronberger und der nach Australien emigrierte Hermann Schneeweiß, aus dem Kreis der Täter und ihrem Umfeld wiederum Adolf Eichmann, die im Innviertel geborene Oberaufseherin der Frauenabteilung von Auschwitz-Birkenau, Maria Mandl, und Theresia Stangl, Ehegattin des bereits erwähnten Franz Stangl. Kursorische Erwähnung finden als weitere oberösterreichische SS-Täter im Kontext das Holocaust der Innviertler Friedrich Kranebitter, der in Breitbrunn bei Hörsching geborene Architekt Fritz Ertl und der promovierte Jurist Ferdinand von Sammern-Frankenegg aus Grieskirchen.

 

Unter jenen, die sich bis zur letzten Konsequenz nicht mit dem Regime arrangiert haben, hat Franz Jägerstätter aus St. Radegund im Innviertel den größten Bekanntheitsgrad. Der gläubige, 2007 vom Papst selig gesprochene Katholik verweigert aus Gewissensgründen unbeugsam den Dienst in der deutschen Wehrmacht und wird dafür 1943 als Wehrkraftzersetzer hingerichtet. Der der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas angehörende Leopold Engleitner, der erst 2013 im biblischen Alter von 107 Jahren verstirbt, tritt nach Lageraufenthalten in Buchenwald und Ravensbrück ebenfalls den Wehrdienst nicht an und wird nach dem Krieg von seinen Mitbürgern nicht, wie erhofft, mit offenen Armen empfangen, sondern „als Vaterlandsverräter und Feigling beschimpft“ (S. 326), ein Verhalten, das sich erst im Lauf der 1990er Jahre ändern sollte. Widerstand gegen den Nationalsozialismus formiert sich unter Kommunisten und Sozialisten vor allem in Steyr, im Salzkammergut (Gruppe Willy-Fred), in Linz, Wels, Freistadt und unter den Eisenbahnern im Innviertel und in Attnang-Puchheim, aber auch in katholisch-monarchischen Kreisen und auf individuelle Initiativen hin. Die Kommunistin Theresia „Resi“ Pesendorfer, der Heimwehrführer Ferdinand Roitinger oder der Jurist Josef Hofer markieren mit ihren Biographien die große Bandbreite der Verweigerung. Erst die Waldheim-Debatte 1986 sollte dazu führen, dass „sich das offizielle Österreich zur Mitverantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen (bekennt)“ (S. 352), woraus in der Folge eine angemessene Würdigung des Widerstandes und konkrete Wiedergutmachungsleistungen für Opfer des Regimes erflossen.

 

Der Historiker und Germanist Christian Angerer arbeitet als Pädagoge, unter anderem auch in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, und leitet das Netzwerk _erinnern.at_ in Oberösterreich, die Historikerin und Geschichtsdidaktikerin Maria Ecker ist Mitarbeiterin im Netzwerk und auf die Entwicklung von Unterrichtsmaterialien spezialisiert. Als Autoren selbständiger Fachpublikationen sind die beiden jeweils promovierten Verfasser des vorliegenden Bandes bislang nicht hervorgetreten (für Christian Angerer vermerkt das Literaturverzeichnis lediglich die Mitherausgeberschaft an einem Werk zum „Nachhall von Mauthausen in der Literatur“, für Maria Ecker einen Beitrag über das „vergessene“ oberösterreichische NS-Opfer Richard Groher in der Zeitschrift des Zeitgeschichte Museums Ebensee im Umfang von gerade einmal drei Seiten). Dessen ungeachtet ist es ihnen hier gelungen, gemeinsam ein glaubwürdiges Panorama der Geschichte des Nationalsozialismus in Oberösterreich zu zeichnen, indem sie vor allem mit Hilfe der zahlreichen Kurzbiographien die Handlungsoptionen des Einzelnen im Spannungsfeld der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen herausarbeiten und die Vielzahl möglicher Antworten auf die Herausforderungen der Zeit anschaulich dokumentieren. Die Lektüre ihrer Schrift wird somit nicht nur der Zielgruppe, sondern jedermann Gewinn bringen, der sich für die Inszenierung der nationalsozialistischen Herrschaft in Oberösterreich interessiert.

 

Kapfenberg                                                    Werner Augustinovic