Aichelburg, Wladimir, Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este 1863-1914. Notizen zu einem ungewöhnlichen Tagebuch eines außergewöhnlichen Lebens – Europas Weg zur Apokalypse, 3 Bände. Berger, Horn 2014. 980, 1236, 1052 S. Ill. Besprochen von Christoph Schmetterer.

 

Es ist keine Überraschung, dass zum 100. Todestag von Erzherzog Franz Ferdinand zahlreiche neue Publikationen zu seinem Leben und Wirken erschienen sind. Innerhalb dieser Werke nimmt jenes von Wladimir Aichelburg allein schon durch seinen Umfang eine ausgenommene Sonderstellung ein. Mit drei Bänden und insgesamt 3.000 Seiten ist es wohl umfassender als alle anderen neuen Bücher zu Franz Ferdinand zusammen.

 

Auch in seinem Aufbau ist Aichelburgs Opus magnum ungewöhnlich. Es ist nämlich eine Chronik im eigentlichen Sinn und wie ein retrospektives Tagebuch strikt nach Tagen gegliedert. Nahezu für jeden  einzelnen Tag im Leben Franz Ferdinands listet der Autor auf, was bei Franz Ferdinand selbst und in seiner Umgebung passierte. Natürlich gibt es immer wieder – besonders in den frühen Jahren – Tage,  die nicht behandelt werden, weil schlichtweg nichts Relevantes überliefert ist. Die Materialfülle und die Vollständigkeit sind jedenfalls sehr beeindruckend. Es ist mehr als nachvollziehbar, dass Aichelburg 33 Jahre in diese Sammlung investiert hat.

 

Die tagebuchartige Darstellungsform bringt es mich sich, dass Aichelburgs Werk kaum dazu geeignet ist, dass man es von Anfang bis zum Ende durchliest. Dafür lädt es dazu ein, zu schmökern und mehr oder weniger beliebig, den einen oder anderen Tag herauszugreifen – man findet sicher schnell eine interessante Bemerkung. Vor allem aber wird diese Chronik ein unverzichtbares systematisches Hilfsmittel für jeden sein, der sich mit einem Ereignis beschäftigt, in das Franz Ferdinand irgendwie involviert war.

 

Aus dem besonderen Anspruch auf Vollständigkeit ergibt sich, dass banale Kleinigkeiten neben Ereignissen von welthistorischer Bedeutung stehen – und das halte ich grundsätzlich auch für sinnvoll. Die drei Bände sind ein Steinbruch, aus dem sich jeder das für ihn Interessante herausholen kann. Aichelburg führt die umfassende, tagebuchartige Darstellung allerdings bis in die Gegenwart weiter – für die Nachkommen Franz Ferdinands. Natürlich ist auch das Nachwirken Franz Ferdinands relevant und interessant. Wenn Aichelburg aber für den 31. 3. 1920 ausführt „‘Herzog Max Hohenberg‘, 18 Jahre alt, wird in Schloß Tetschen mit Kuhpockenstoff geimpft“, kann ich schlichtweg nicht nachvollziehen, worin die Bedeutung dieser Information für die Biographie seines Vaters liegen soll. Der diesem Eintrag unmittelbar vorangehende Eintrag für den 18. 3. 1920 notiert die Erlassung eines neuen österreichischen Wehrgesetzes, mit dem der Mannschaftsstand des Bundesheeres auf 21.000 Mann beschränkt wurde. Die allgemeine politische Bedeutung ist hier zwar unzweifelhaft gegeben, dafür bleibt der Zusammenhang zum Leben Franz Ferdinands völlig offen.

 

Der tagebuchartige Hauptteil wird im dritten Band durch zahlreiche systematische Informationen ergänzt, deren umfangreichster Teil ein erschöpfendes Personenregister mit erläuternden Bemerkungen ist. Auch hier steht Hochrelevantes neben weniger Wichtigem. Im Personenregister folgen auf gut fünf Zeilen über Ministerpräsidenten Stürgkh immerhin zweieinhalb Zeilen über einen Herrn Stuhlrichter (Vorname unbekannt), dessen einziger Zusammenhang mit Franz Ferdinand darin besteht, dass der Erzherzog ihm bei den Kaisermanövern 1911 eine silberne Tabatiere schenkte.

 

Auch sonst ist die Gewichtung einzelner Themen eigenartig. Franz Ferdinands „Regierungsprogramm“ einerseits, seinen Uniformen, Hofzügen und Autos andererseits sind jeweils etwa 40 Seiten gewidmet. Ich gestehe, dass ich mich persönlich sowohl für die Uniformen als auch für die Hofzüge sehr wohl interessiere – insgesamt finde ich diese Themen aber ungleich weniger bedeutend als Franz Ferdinands politische Pläne.

 

Aichelburgs Werk ist eine Dokumentation. Im Vorwort erklärt der Autor dementsprechend auch, dass er vor allem Originaldokumente sprechen lassen möchte (S. 13). Seine eigene Meinung nimmt Aichelburg deshalb aber nicht zurück. Er ist ein begeisterter Fan von Franz Ferdinand, und das spürt man sehr deutlich. Wenn man Aichelburg liest, gewinnt man den Eindruck, dass Franz Ferdinand praktisch keine Schwächen gehabt hätte und als Kaiser mit Sicherheit der Retter nicht nur Österreich-Ungarns, sondern vielleicht auch ganz Europas geworden wäre. Die Frage, ob Aichelburg die nötige professionelle Distanz zum Gegenstand seiner Biographie hat, habe ich mir aber vor allem gestellt, als ich gelesen habe, dass er sogar im Bett Franz Ferdinands in dessen Salonwagen geschlafen hat – und natürlich begeistert war.

 

Das alles sind aber Kleinigkeiten angesichts der Bedeutung dieser drei Bände. Es ist nicht nur das gewichtigste, sondern vermutlich auch das wichtigste Werk, das bisher über Franz Ferdinand geschrieben wurde.

 

Wien                           Christoph Schmetterer