Adel, Recht und Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Europa, hg. v. Baumann, Anette/Jendorff, Alexander (= bibliothek altes reich 15). Oldenbourg, München 2014. 429 S. Besprochen von Bernd Schildt.

 

Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse der Wetzlarer Tagung vom 29. 11. bis 1. 12. 2012 zum Thema „Adel und (Höchste) Gerichtsbarkeit – adelige Rechtskultur im alten Europa“. Der stark forschungsmethodisch angelegte, einleitende Beitrag von Anette Baumann und Alexander Jendorff, „Einleitung: Adelskultur(en) und Rechtskultur(en) in der Frühen Neuzeit als Problemzusammenhang“ (9-30) umschreibt das Anliegen der Tagung. Wie vertrug sich tradiertes adliges Selbstverständnis mit der zunehmenden Verrechtlichung der frühneuzeitlichen Gesellschaft? Stichwort: Justiznutzung des Adels im Kontext rechtshistorischer Forschungen mit neuen Ansätzen der Sozial- und Kulturgeschichte. Die einzelnen Beiträge werden nach drei Themenbereichen geordnet präsentiert:

 

Drei Beiträge sind dem Komplex „I. Adeligkeit und Recht als Momente des Sozialen“ gewidmet.

 

Alexander Jendorff, „Adeligkeit und Rechtswissenschaft: die Beurteilung adeliger Tötungsdelikte in den europäischen Strafrechtslehren vornehmlich des 16. und 17. Jahrhunderts“ (33-75), kommt in seiner Analyse frühneuzeitlicher Lehren zur rechtlichen Bewertung von Tötungshandlungen Adliger zu dem Schluss, dass sich bis in das 18. Jahrhundert hinein zwar kein explizites Standesrecht herausgebildet hatte, wohl aber eine Bevorzugung in der Gleichheit insbesondere mit Blick auf die Strafzumessung und den Strafvollzug weithin üblich war (75).

 

Stefan Andreas Stodolkowitz, „Die Gutsherrschaft der Grafen von Bernstorff in den Verfahren des Oberappellationsgerichts Celle“ (77-102), verdeutlicht an Hand zahlreicher Untertanenprozesse gutsuntertäniger Bauern gegen ihre adlige Herrschaft vornehmlich wegen nicht geschuldeter aber "widerrechtlich" eingeforderter Dienste die Verrechtlichung von Agrarkonflikten gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Eine Entwicklung die im Herzogtum Lauenburg an der Wende zum 19. Jahrhundert zu einer weitgehend gewaltfreien Lösung derartiger Streitigkeiten geführt hat.

 

Michael Sikora, „Ehe–Stand–Recht. Hochadlige Verwicklungen“ (103-125), offenbart, dass es dem Hochadel gelungen war, bis zum Ende des Alten Reiches Konflikte über Konsequenzen aus standesverschiedenen Ehen selbst (also unter Ausschaltung der Justiz) zu regeln. Gleichwohl konnte er sich dem allgemeinen Trend zur Verrechtlichung insoweit nicht entziehen, als die so bewahrte Autonomie in dieser Frage eine öffentliche Debatte auslöste und zudem einer durch gelehrte Juristen wahrgenommenen rechtlichen Absicherung bedurfte (125).

 

Die fünf Beiträge zum Problemkreis „II. Adel und Justizlandschaften in Europa“ setzen sich mit unterschiedlichen Aspekten der Schaffung eines einheitlichen Rechts und der Etablierung von Höchstgerichtsbarkeit(en) gegen adligen Widerstand in Spanien, im Großherzogtum Toskana, im Großfürstentum Litauen, in Polen und in Russland auseinander.

 

Ignacio Czeguhn, „Königliche Gewalt versus Fürstengewalt – Fürstengerichtsbarkeit und Appellationshindernisse im Spanien des 16. Jahrhunderts“ (129-140), zeigt wie die einst hochangesehene Chancilleria y Audiencia unter Ferdinand II. und Karl V. aus politischer Rücksichtnahme auf hochadlige Interessen in ihrer Stellung als zentrale Gerichtsinstanz sukzessive geschwächt worden ist. Zwar haben die spanischen Könige niemals formell Appellationsprivilegien wie im Reich verliehen, in der Praxis ließen sie den sich Gerichtshoheiten anmaßenden Adel indes gewähren.

 

In der 1766 erschienenen 3. Ausgabe seiner Schrift „dei delitti e delle pene“ postulierte Beccaria die Gleichbehandlung im Strafrecht – adlige und nichtadlige Straftäter sollten danach in gleicher Weise strafrechtlich verfolgt werden. Frank Jung, „Die Gleichheit vor dem Gesetz. Cesare Beccaria, das toskanische Strafgesetzbuch von 1786 und die leopoldinischen Verfassungsentwürfe“ (141-160), zeichnet vor dem Hintergrund der Verfassung des Großherzogtums Toskana den Weg nach, wie diese Forderung Beccarias Eingang die dortige Gesetzgebung gefunden hatte.

 

Hans-Jürgen Bömelburg, „Die polnisch-litauische Tribunalverfassung und das Reichskammergericht. Strukturelle Parallelen, Elemente eines Transfers, funktionaler Vergleich und Erinnerungsgeschichte“ (161-183), führt in seiner Untersuchung des ständisch-genossenschaftlich geprägten Gerichtssystems in Polen-Litauen den Nachweis, dass trotz eines geringeren Professionalisierungsgrades sowohl das (polnische) Krontribunal als auch das litauische Tribunal – wie das Reichskammergericht im Reich – zur Ausbildung eines zentralistisch geprägten Rechtszuges, zur Rechtsvereinheitlichung und schließlich auch zur Integration von an der Peripherie gelegenen Gebieten, wie die ruthenischen Provinzen und das Königliche-Preußen, beitrugen.

 

Mit seinem Beitrag „Lex est rex und rex supremus iudex. Das crimen laesae maiestatis zwischen Monarch und Adel im Königreich Polen des16.Jahrhunderts“ (185-211) untersucht Kolja Lichy das Delikt der Majestätsbeleidigung mit Blick auf die Auseinandersetzungen um die Stellung des Königs in der polnischen Adelsrepublik. Analysiert werden dabei die Wechselwirkungen zwischen Gesetzgebung und Prozessen wegen Majestätsbeleidigung in Polen-Litauen im 16. Jahrhundert und die parallel dazu etwa zeitgleich in Kronpolen entstandenen fünf adligen Kodifkationsentwürfe, in denen das Recht, jedenfalls aus der Perspektive des Adels, als eine den Monarchen wie die communitas nobilium bindende Kategorie verstanden wurde.

 

Im Zentrum des Beitrages Angela Rustemeyers, „Adel und Majestätsverbrechen im Russland Peters des Großen und Anna Ioannovnas“ (213-251), steht die als sogenannte Dekade des Terrors in die Geschichte eingegangene Herrschaft Anna Ioannovnas (1730-1740). Die „berüchtigten Majestätsverbrecherprozesse“ jener Zeit werden in den Kontext mit der traditionell einzigartig umfassenden Verfolgung dieser Delikte in Russland und die eher vorsichtigen Reformen Peters des Großen gestellt. Unter den Nachfolgerinnen Anna Ioannovnas (Elisabeth und Katarina) kam es dann – unter Anknüpfung an die Reformen Peters – zu einem allmählichen Rückgang der rigorosen Verfolgung auch des Adels wegen Majestätsverbrechen.

 

Zwei der sechs Beiträge innerhalb des Komplexes „III. Adelige Justiznutzung und oberste Gerichtsinstitutionen im Alten Reich“ betreffen das Wirken führender Funktionsträger der Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich.

 

Kathrin Rast, „Nutzung und Inanspruchnahme des Reichshofrats durch adlige Mitglieder der Herrenbank am Beispiel des Vizepräsidenten Johann Heinrich Notthafft Reichsgraf von Wernberg (1604–1665)“ (295-330), und Maria von Loewenich, „Amt und Prestige. Die Kammerrichter zwischen Gericht und ständischer Ökonomie“ (409-429), können überzeugend nachweisen, dass sowohl das Amt eines Vizepräsidenten am Reichshofrat als auch das eines Kammerrichters am Reichskammergericht wegen der in beiden Fällen eher geringen und zudem unregelmäßig gezahlten Besoldung finanziell kaum attraktiv gewesen ist; das Amt des Kammerrichters war zudem auch noch mit erheblichen Kosten verbunden. Das eigentliche Interesse an der Ausübung beider Ämter erwuchs aus dem damit verbundenen Gewinn an Sozialprestige und der Möglichkeit ein Netzwerk aufzubauen, das sowohl der Amtsführung diente wie auch in erheblichem Umfang eigenen Interessen nutzbar gemacht werden konnte. Dabei scheinen die Möglichkeiten eines Reichshofrats weitreichender gewesen zu sein, da diese Institution nicht nur Höchstgericht gewesen ist sondern auch als oberste Verwaltungsbehörde des Kaisers fungierte.

 

Tobias Schenk, „Der Reichshofrat als oberster Lehnshof. Dynastie- und adelsgeschichtliche Implikationen am Beispiel Brandenburg-Preußens“ (255-394), misst lehnsrechtlichen Faktoren eine herausragende, von der bisherigen Frühneuzeitforschung weithin vernachlässigte Bedeutung bei. Das gilt sowohl für die hohenzollersche Dynastiegeschichte als auch für das Verständnis der brandenburg-preußischen Reichs- und Außenpolitik. Insbesondere Auseinandersetzungen zwischen brandenburgischen Adligen mit dem Kurfürsten um die Allodifikation ihrer mittelbaren Reichslehen vor dem Reichshofrat machen deutlich, dass der Kaiser seine oberlehnrechtlich Stellung als dominus directus bis zum Ende des Alten Reiches bewahrt hatte.

 

Siegrid Westphal, „Adel und eheliche Konflikte vor dem Reichshofrat in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts“ (331-351), untersucht zwei Ehescheidungsprozesse von Angehörigen des fränkischen Ritterkreis, Kanton Rhön-Werra, bei denen hinsichtlich der Anerkennung neuer Scheidungsgründe auf das Allgemeine Preußische Landrecht recurriert worden war und geht in diesem Zusammenhang auf die Begründung für die Zuständigkeit des Reichshofrats für Ehekonflikte protestantischer Reichsritter ein. Die vornehmlich sozialgeschichtliche Sichtweise hätte bei stärkerer Berücksichtigung rechtshistorisch-dogmengeschichtlicher Logik an Überzeugungskraft gewinnen können.

 

Andreas Erb, „Der „wilde Wolf von Merzien“ oder „Cavalier von ansehnlichen Character“? – Ein anhaltischer Adliger im Konflikt mit seinem Landesherrn“ (353-377), schildert anschaulich wie ein, wenn auch schwerwiegender, so doch in der Sache letztlich simpler Kriminalprozess gegen einen Angehörigen des landsässigen Adels im kleinen Fürstentum Anhalt-Köthen zu einer Staatsaffäre eskalierte. Das den Ausgangspunkt bildende Tötungsdelikt trat im Verlauf eines beinahe skurrile Züge annehmenden Geschehens nahezu vollständig in den Hintergrund. Anachronistisches Standesdenken eines „ehrversessenen“ Landadligen und der Anspruch auf Wahrung landesherrlicher Gerichtskompetenz seitens des in Anhalt-Köthen regierenden Fürsten gepaart mit wenig geschicktem Agieren durch das Reichskammergericht führten schließlich dazu, dass sich am Ende sogar der Reichstag mit dieser Angelegenheit befassen musste.

 

Dieter Wunder, „Landsässiger hessischer Adel vor den Reichsgerichten. Grenzen des Fürstenstaates im 18.Jahrhundert“ (379-407), thematisiert an drei Beispielen die erfolgreiche Justiznutzung des landsässigen hessischen Adels durch Inanspruchnahme der beiden höchsten Reichsgerichte. In dem vor dem Reichskammergericht geführten Prozess zwischen Angehörigen einer weitverzweigten hessischen Adelsfamilie um den Besitz eines adligen Gutes kam es trotz des hessischen Appellationsprivilegs de facto zu einer Einschränkung der Entscheidungsbefugnis des landgräflichen Lehnshofs wie des Oberappellationsgerichts. Dagegen prozessierten in den beiden vor dem Reichshofrat geführten Prozessen landsässige Adlige gegen ihren Landesherren, der versucht hatte, sich über die (ungeschriebene) hessische Verfassung hinwegzusetzen. In der Zurückweisung dieser fürstlichen Anmaßungen durch das Gericht wird auch in diesen Fällen die Wirksamkeit höchstrichterlicher Judikatur deutlich.

 

Abschließend sei eine Anmerkung gestattet: Die im einleitenden Beitrag konstatierte intensive Vernetzung der jüngeren (Reichs-) Verfassungs-, Politik- und Sozialgeschichte (11) wird durch die personelle Zusammensetzung der Beiträger kaum widergespiegelt – soweit ich sehe sind nur zwei Rechtshistoriker zu Wort gekommen – und auch inhaltlich ist eine adäquate Verknüpfung der insgesamt dominierenden sozialgeschichtlichen Sicht mit der rechtshistorischen Perspektive bestenfalls ansatzweise zu erkennen. Gleichwohl ist die Lektüre des vorliegenden, durchaus anregenden Tagungsbandes sowohl in toto als auch en détail durchaus zu empfehlen.

 

Jatznick                                                          Bernd Schildt