Vries, Peer
H. H., Ursprünge des modernen Wirtschaftswachstums. England, China und die
Welt in der frühen Neuzeit (= Schriftenreihe der FRIAS School of History 8). Vandenhoeck
& Ruprecht, Göttingen 2013. 480 S., 13 Graf., 55 Tab. Besprochen von
Gerhard Köbler.
„Warum wurden
manche Länder reich und blieben viele andere arm?“ fragt der Verfasser am
Beginn seiner gewichtigen, aus dem Englischen nachträglich in die deutsche
Sprache übertragenen Untersuchung im Gefolge von Adam Smiths Inquiry into the
nature and causes of the wealth of nations. Als Vergleichsmaterial verwendet er
dabei trotz Berücksichtigung auch anderer Teile der Welt in erster Linie
Großbritannien und China. Vergleichsgegenstand sind im Wesentlichen Geographie,
Arbeitskraft und Konsum, Kapital und Akkumulation, Spezialisierung und Tausch,
Innovation, Märkte, Eigentumsrechte und Staaten sowie die Kultur.
Geboren wurde
der Verfasser 1953 (in Weert in Limburg) in den Niederlanden, wo er nach dem
Studium der Geschichte in Leiden 1979 promoviert und im Department of History
zunächst vor allem mit Lehraufgaben (Wirtschaftsgeschichte,
Gesellschaftsgeschichte und vieles andere mehr) betraut wurde. Sein vorliegendes
neues, den Gedankengang durch 13 Graphiken und 55 Tabellen veranschaulichendes
Werk gliedert sich nach einer überzeugenden Einleitung über die Great
Divergence in drei Teile. Sie betreffen die moderne Wirtschaftswissenschaft und
Theorien des Wachstums, Erklärungen der Great Divergence und die abschließende
Frage warum (eigentlich) nicht China?
Ausgangspunkt
des Verfassers ist die Normalität von Armut und Stagnation in der globalen Wirtschaftsgeschichte.
Demgegenüber traten in England zwischen der Glorious Revolution von 1688 und
dem offiziellen Ende des Mertkantilismus um 1850 bedeutende Veränderungen ein.
Sie hatten allerdings bis 1700 oder 1750 noch kein großes Wohlstandsgefälle zwischen
Großbritannien und China zur Folge, bewirkten aber in Großbritannien zwischen
1820 und dem Beginn des 21. Jahrhunderts eine Vermehrung des Reichtums auf etwa
1500 Prozent.
Eindeutige
allgemeine Kausalbeziehungen zwischen bestimmten geographischen Faktoren sowie
Reichtum oder Entwicklung ließen sich dabei auch für die so genannte Great
Divergence zwischen etwa 1680 und 1850 nicht nachweisen. Aber Großbritannien,
das im Vergleich zum Nahen Osten, zum Mittelmeerraum wie zum Fernen Osten zunächst
meist unbedeutend war, hatte seit dem spätern 17. Jahrhundert bessere
Voraussetzungen für die Great Divergence als jedes andere Land der Welt. Es war
kein laissez-faire-Staat, sondern ein proaktiv in die Wirtschaft eingreifender
merkantilistischer Staat.
Besondere
Bedeutung misst der Autor dabei hohen Löhnen, kapitalintensiver und
energieintensiver Produktion, umfangreichem Einsatz von Lohnarbeit, der
Ausnutzung von Skaleneffekten in Produktion und Austausch, der Spezialisierung
und Importsubstitution, der Ausrichtung nützlichen, gesicherten Wissens an der
Produktion sowie der Innovationsbereitschaft bei. Deshalb sieht er die Great
Divergence nicht als plötzliches und unvorhergesehenes Ergebnis eines
glücklichen Zusammentreffens von Umständen an. Vielmehr ist sie seiner Ansicht
nach eine aus tiefen Ursachen entstehende langsame Entwicklung aus allein im
frühneuzeitlichen Europa gegebenen Bedingungen.
Im Ergebnis
stellt er fest, dass eine wirtschaftliche Kluft deswegen entstand, weil die
Ökonomie eines Teiles der Welt in ein vollkommen unnormales anhaltendes
Wachstum eintrat, während der Rest der Welt in einem vollkommen normalen
„Nichtwachstum“ verblieb, was weder Schicksal noch Zufall war, sondern
Voraussetzungen (im Westen) hatte, die das Wirtschaftswachstum hier wahrscheinlicher
machten, aber andernorts fehlten. Nach seinen überzeugenden Erkenntnissen beruhte Europas Dynamik auf einer von
gegenseitigem Nacheifern geprägten Form von Konkurrenz, in der bestimmte
Staaten international die Oberhand gewinnen mochten, die anderen aber, um nicht
gänzlich von der Landkarte zu verschwinden, zu ständiger Weiterentwicklung
gezwungen waren und in welcher der Staat ständig einen Interessenausgleich mit
den Eliten im eigenen Land suchen musste. Fundamentale Ursache des Aufstiegs
des Westens war dann die Nichtmonopolisierung, aber enge Wechselbeziehung der
vier Quellen gesellschaftlicher Macht (Politik, Ideologie, Wirtschaft,
militärische Macht) zwischen wie innerhalb von Staaten und in ihren je nach
Kontext unterschiedlichen Auswirkungen.
Allerdings zieht
die Begründung einer Entwicklung stets die Frage nach den Gründen für die
Vorentwicklung nach sich. Deswegen bezeichnet der Verfasser ansprechend die
Debatte über die Great Divergence als weiter offen. Dessenungeachtet konnte er
die Bedeutung der globalen Wirtschaftsgeschichte für die ökonomische Theorie in
seinem Adam Smith nach einer modernen deutschen Übersetzung beiziehenden Werk
beispielhaft illustrieren.
Innsbruck Gerhard
Köbler