Simms, Brendan, Kampf um Vorherrschaft. Eine deutsche Geschichte Europas 1453 bis heute. Aus dem Engl. von Schmidt, Klaus-Dieter. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014. 896 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Den Franzosen mit dem Stiefel in den sprichwörtlichen Allerwertesten, das russische Monstrum in die knollige Nase tretend und zugleich mit dem aufgepflanzten Bajonett pikend, dabei unterstützt von einem sich des serbischen Schweins und der montenegrinischen Laus (neben der irischen Bulldogge bezeichnender Weise die einzigen in animalischer Analogie dargestellten Länder) erwehrenden Österreich-Ungarn: So sieht die satirische Landkarte Walter Triers, die der Verlag für die Gestaltung des Schutzeinbandes herangezogen hat, das Deutsche Reich zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Das Bild steht programmatisch jedoch keineswegs allein für diesen engen Zeitraum.

 

Denn Brendan Simms, Professor für die Geschichte der internationalen Beziehungen an der Universität Cambridge, holt zeitlich weit aus. Seine Betrachtung umfasst die gesamte neuzeitliche Entwicklung Europas seit dem Fall Konstantinopels 1453 und zieht sich herauf bis in die unmittelbare, im Zeichen der Ukraine-Krise stehende Gegenwart. Nach einer Darstellung der Lage Europas um 1450 folgt in acht Kapiteln sein Streifzug durch die (nicht nur) europäische Geschichte der Neuzeit, chronologisch gegliedert und vom Verfasser in einem für die jeweilige Epoche für typisch angesehenen, herrschaftspolitisch akzentuierten Begriff konzentriert; so folgen den „Reiche(n)“ 1453 – 1648 die „Sukzessionen“ 1649 – 1755, die „Revolutionen“ 1756 – 1813, die „Emanzipationen“ 1814 – 1866, die „Vereinigungen“ 1867 – 1916, die „Utopien“ 1917 – 1944, die „Teilungen“ 1945 – 1973 und die „Demokratien“ 1974 – 2011, bevor der gebürtige Ire in seiner Schlussbetrachtung versucht, aus seinen Thesen Fragen zur künftigen Entwicklung Europas abzuleiten. Der Band – dies sei vorweggenommen – besticht vor allem durch die hohe fachliche Kompetenz seines Verfassers, die sachkundig vernetzten Fakten, den innovativen Blickwinkel und das saubere Lektorat.

 

Brendan Simms sieht das Schicksal Deutschlands - und damit auch Europas - untrennbar verknüpft mit dessen geopolitischen Determinanten. In der durch alle Zeiten stets aktuellen Frage, ob Europa von einer starken Kraft dominiert werden solle, sei Deutschland wegen seiner zentralen Lage unausweichlich zum Schauplatz der maßgeblichen Auseinandersetzungen geworden. Seine außerordentlichen wirtschaftlichen wie militärischen Potentiale hätten seine Umgebung immer wieder dazu angehalten, die deutsche Macht einzuhegen und am unbeschränkten Wachstum zu hindern, sie jedoch zugleich als Gegengewicht zu möglichen Bedrohungen von außen in einem bestimmten Umfang funktionsfähig zu erhalten. Die „deutsche Frage“ sei somit keineswegs ausschließlich ein mit der Etablierung des Machtstaats verknüpftes Phänomen des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern bereits im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation in signifikanter Form relevant gewesen. „Ein ums andere Mal, vom Westfälischen Frieden über die Ergebnisse des Wiener Kongresses bis zur Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und dem neuen Auftrieb, den die europäische Integration nach dem Fall der Mauer erhielt, ist der Zusammenhang zwischen der inneren Ordnung in Deutschland und dem Frieden in Europa zutage getreten. Einige der bedeutendsten internationalen Institutionen, Verträge und Prozesse – der Völkerbund, die Vereinten Nationen, das Projekt der europäischen Integration, der Atomwaffensperrvertrag und (zum Teil) die NATO – waren ursprünglich geschaffen beziehungsweise eingeleitet worden, um Deutschland im Zaum zu halten“ (S. 720).

 

Auch der Kampf unterschiedlicher Ideologien sei vornehmlich auf deutschem Boden ausgetragen worden. Hier führt der Verfasser den Vorstoß des Islam bis nach Wien ebenso an wie die im Dreißigjährigen Krieg gipfelnden Auseinandersetzungen zwischen Katholizismus und Protestantismus. Später, im 19. Jahrhundert, standen liberale Konstitutionalisten gegen konservative Autokraten, dann Marxisten gegen Nationalsozialisten und endlich die kommunistische Diktatur der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gegen die freiheitliche Demokratie der Bundesrepublik (BRD). „Heute wird die Frage, ob Europa auf dem Weg zu einer engeren Union weitergehen oder ein Bund von Nationalstaaten bleiben wird, in erster Linie in und durch Deutschland entschieden“, so der Verfasser apodiktisch. Aber selbst für die heute einzige Weltmacht, die Vereinigten Staaten (USA), sei „das europäische Machtgleichgewicht – und insbesondere die Zukunft Deutschlands – von grundlegender Bedeutung […], fürchteten [doch] amerikanische Strategen, die Vorherrschaft einer einzelnen Macht in Europa würde rasch dazu führen, dass sie versuchen würde, Amerika ihre Autorität und Ideologie aufzuzwingen. […] Die Vereinigten Staaten entstammen also dem europäischen Staatensystem und sind seither für dieses System immer wichtiger geworden“ (S. 721).

 

Die Gegenwart sei laut Brendan Simms eine „Zeit außerordentlicher europäischer Ungewissheit“, die für den Kontinent im Kern zwei Optionen bereithalte. Die erste bestehe im Fortbestehen der Europäischen Union, wie sie derzeit verfasst sei, als „eine zeitgenössische Form des Heiligen Römischen Reichs […], das [die Europäer] in die Lage versetzt, besser miteinander auszukommen als jemals zuvor, aber zu effektivem kollektiven Handeln unfähig ist“. Die zweite erfordere eine „neue konstitutionelle Einigung nach dem Vorbild der angloamerikanischen […] in Gestalt einer mächtigen Union mit gemeinsamer Schuldenaufnahme, starken, einem direkt gewählten Parlament verantwortlichen Zentralinstitutionen und einer gemeinsamen Verteidigung gegen gemeinsame Feinde“. Ganz offensichtlich ist dies die Variante, die der Verfasser präferiert; in der Pflicht sieht er dabei neben der Militärmacht Großbritannien in erster Linie den Wirtschaftsgiganten Deutschland, der im günstigeren Fall, eingebunden in eine „europäische demokratische Union das kritische Gewicht [als Akteur von globaler Bedeutung]“ erlangen könnte, „das seinen Staatsmännern von Bismarck bis Hitler versagt blieb“, dessen ebenfalls denkmögliche unkontrollierte wirtschaftliche Hegemonie aber „auf lange Sicht die europäische Union zerstören und dadurch seine eigene ökonomische und strategische Sicherheit erheblich vermindern würde“ S. 722f.). Gegenwärtig sei Deutschland nach William Peterson ein „Reluctant Hegemon“, dessen fehlender militärischer Ehrgeiz sich paradoxer Weise negativ auf die ganze Union auswirke: „Im Gefühl der Sicherheit in einem Ring aus demokratischen Marktwirtschaften begann sich Deutschland, von der Welt abzusetzen und sich immer stärker auf die Pflege des eigenen Wohlstands und damit unvermeidlich auch der enormen ökonomischen Kraft zu konzentrieren, die den übrigen Kontinent destabilisierte. Die führenden Politiker waren immer weniger geneigt, die Wut der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen, indem sie sich für militärische Interventionen im Nahen Osten einsetzten. Ebensowenig wollten sie wegen der Osterweiterung den Zorn Russlands und womöglich Vergeltungsaktionen auf dem Energiesektor riskieren“ (S. 718). Der Verfasser glaubt nicht daran, dass sich die erwünschte Integration Europas gleichsam ohne Not vorantreiben lässt. Die Geschichte zeige, „dass die Europäer […] Einheit immer nur dann erreicht haben, wenn sie einer inneren oder äußeren Gefahr gegenüberstanden“, woraus folge, „dass nur eine große äußere Gefahr Europa heute einigen wird“ (S. 722f.).

 

Es kann als sicher gelten, dass die Thesen des Verfassers in Kreisen der deutschen Politik, vor allem aber in den kleineren Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht unwidersprochen bleiben werden. Die Vision, dass ein wirtschaftlich mächtiges Deutschland federführend die zukünftige Gestalt der europäischen Integration bestimmen könnte, wird vor allem dort auf Kritik stoßen, wo sich eine starke nationale Identität mit einer föderalistischen Grundhaltung verbindet. Die Frage, wie viel Europa Europa wirklich braucht, scheint längst noch nicht ausdiskutiert. Auf der anderen Seite haben bereits die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien im ausklingenden zweiten Jahrtausend jene sicherheitspolitischen Defizite der Europäischen Union schonungslos offengelegt, die Simms nun, zwei Jahrzehnte später, immer noch moniert. Die aktuellen Krisen in der Ukraine und im Nahen Osten machen deutlich, dass zum mentalen Widerstand gegen militärische Interventionen (Deutschland „am Hindukusch“ zu verteidigen, war nie populär und konnte es gar nicht sein) zunehmend die unzureichenden Ressourcen der über Jahre zurückgefahrenen und finanziell ausgehungerten militärischen Apparate treten, somit das Nicht-Wollen verstärkt zum Nicht-Können mutiert. Vielleicht vermag nun die Bedrohung durch den Terror des „Islamischen Staates“ (IS) jene vom Verfasser reklamierte äußere Gefahr darzustellen, die über das kriegerische Engagement der militärisch potenteren Atommächte Frankreich und Großbritannien hinaus die Europäer zu mehr solidarischer Einheit und zur Schaffung handlungs- und einsatzfähiger sicherheitspolitischer Strukturen bewegen könnte. Die Rolle Deutschlands in diesem Szenario erscheint indes noch offen.

 

Kapfenberg                                                                           Werner Augustinovic