Schwartz, Michael, Ethnische „Säuberungen“ in der Moderne. Globale Wechselwirkungen nationalistischer und rassistischer Gewaltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 95). Oldenbourg, München 2013. X, 697 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Bisher lag keine Gesamtdarstellung der ethnischen „Säuberungen“ in den letzten zwei Jahrhunderten aus „globalgeschichtlicher Perspektive“ (S. 19) vor, so dass das Werk von Michael Schwartz über diese Thematik sehr zu begrüßen ist. In der Einleitung: „Ethnische ,Säuberungen‘ und unsere moderne Welt“ (S. 1-24) geht Schwartz zunächst dem Begriff der ethnischen „Säuberung“ nach, der von einer Expertenkommission der Vereinten Nationen 1992 definiert wurde als „vorsätzliche Politik, die von einer ethnischen und religiösen Gruppe verfolgt wird, um die Zivilbevölkerung einer anderen ethnischen oder religiösen Gruppe durch gewaltsame und terroristische Mittel aus bestimmten geografischen Gebieten zu entfernen“ (S. 1). Ethnische „Säuberung“ ist nicht „ohne weiteres mit Genozid gleichzusetzen“, der eine Vernichtungsabsicht (Vorsatz) voraussetzt (S. 2). Eine Grauzone zwischen Vertreibung und Völkermord liegt vor, wenn die Genozidopfer „nicht durch unmittelbar tödliche Gewalt, sondern an Hunger oder Krankheiten“ sterben (S. 2). Die Konzepte von „Nationen, Nationalismus, Nationalstaat, Gleichheit, Homogenität, wissenschaftlicher Planung zur Gesellschaftsveränderung“ ebenso wie das „Politikkonzept ethnischer ,Säuberung‘“ sind nach Schwartz Bestandteile des „Denkstils unserer Moderne“ (S. 6), die ein „Konzept rationaler Planung und Steuerung“ (S. 12f.) voraussetzt. In den beiden weiteren Abschnitten der Einleitung geht es um „Zeiten und Räume“ und um „frühe Lernorte und globale Wechselwirkungen“ (S. 16ff., 20ff.).

 

Die Hauptabschnitte II-VII sind nicht ausschließlich chronologisch angeordnet. Der Darstellung: „Dammbruch: ethnische ,Säuberungen‘ und Erster Weltkrieg“ (S. 25ff.) folgen „zwei archäologische Tiefenbohrungen“ in den Kapiteln III: „Der Westen und der Rest: Außereuropäische Lernorte für ethnische ,Säuberungen‘“ (S. 185ff.) und IV: „Modernisierung durch Vertreibung: Der Balkan als europäischer Lernort für ethnische ,Säuberungen‘“ (S. 235ff.) „auf der Suche nach ersten Testfällen ethnischer ,Säuberung‘“ (S. 224). Außereuropäische Lernorte sieht Schwartz in den Siedlerdemokratien Amerikas und in Australien, in den kolonialen Genoziden und Deportationen in Südafrika und Südwestafrika, in Lateinamerika (sehr knapp behandelt) und auf den Philippinen. Den Rückwirkungen der kolonialistischen Ethnogewalt auf Europa geht Schwartz im letzten Unterabschnitt für die Zeit von 1914-1945 nach (S. 220ff.). Die ersten europäischen ethnischen „Säuberungen“ (Flucht/Vertreibung; bilaterale Umsiedlungsverträge; S. 235ff.) fanden auf dem Balkan statt. Die Bedeutung der französischen Revolution von 1789 für Ausgrenzung und Vertreibung durch „politisch motivierte Säuberung“ (S. 10) hätte noch detaillierter herausgestellt werden sollen. Die erste „massenhafte Verjagung“ von Muslimen wurde bereits durch den Serbenaufstand von 1804 ausgelöst (S. 238f.). Zum Ende des ersten Balkankrieges 1912/1913 lebten nur noch 1,4 Millionen Muslime auf dem Balkan (gegenüber vorher 2,3 Millionen; von ihnen kamen wahrscheinlich 27% zu Tode, S. 302f.). Im Abschnitt über den Ersten Weltkrieg (S. 25ff.) behandelt Schwartz zunächst die meist deutschen „Vordenker ethnischer Säuberung“ (u. a. Heinrich Claß, Adolf Bartels, Paul de Lagarde, Ernst Hasse sowie Siegfried Lichtenstaedter, der 1942 im Ghetto Theresienstadt ermordet wurde), die jedoch für die Mehrheit der politischen Elite in der Weltkriegszeit nicht repräsentativ waren (S. 52). Ausführlich dargeswtellt werden die genozidale Deportation der osmanischen Armenier sowie die Deportation der osmanischen Griechen ohne Genozid. Eine Deportation der osmanischen Juden fand nicht statt. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs kamen bis zu 70.000 russische Juden (Zionisten) nach Palästina (S. 114ff.). Die Deportationen in Russland betrafen u. a. Volksdeutsche und Juden der russischen Westprovinzen und 1915/1916 auch volksdeutsche Kolonialisten u. a in der Ukraine, Wolhynien und Bessarabien (S. 126ff., 157). Im Abschnitt: „Deutsche Umsiedlungspläne für Nordosteuropa“ (S. 157ff.) weist Schwartz auf das preußische, im Ausland scharf kritisierte Ansiedlungsgesetz von 1908 hin, das Enteignungen polnischen Landbesitzes vorsah, das jedoch keine größere praktische Bedeutung erlangte. Dies gilt auch für die von den Alldeutschen und dem Militär betriebene „Grenzstreifen-Politik“ (Schaffung von Siedlungsland insbesondere für deutsch-russische Rückkehrer; S. 178ff.). Als „Alternativen der Zwischenkriegszeit 1919-1939“ zeigt Schwartz drei Modelle ethnischer Konfliktlösung auf: Das Modell von Versailles (Minderheitenschutz in den neuen östlichen Nationalstaaten), das Moskauer Modell von 1922 (Nationaler Föderalismus) und das Zwangstransfer-Modell von Lausanne (Konvention über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei) vom 24. 7. 1923, das weiteren Abkommen als Vorbild diente, das aber heute als „Rückschritt in der Geschichte der Menschenrechte“ gilt (S. 411).

 

Als „Höhepunkt“ bezeichnet die Überschrift zum VI. Kapitel „Ethnische ,Säuberungen‘ und Zweiter Weltkrieg“ (S. 425ff.). Der Abschnitt über „Rassistische Vertreibungs- und Umsiedlungspolitik“ (Hitlers „neue Ordnung der ethnografischen Verhältnisse“, S. 429ff.) befasst sich auch mit den Vertreibungen im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien nach 1945 (S. 449ff.). In: „Von der Vertreibung zum Völkermord: Die Verfolgung der Juden in Hitlers Imperium“ (S. 450ff.) stellt Schwartz u. a. die Madagaskarpläne und den Holocaust dar. In den Abschnitten 4, 6 und 7 bespricht Schwartz breit die antideutschen „,Transfer‘-Planungen“ der Anti-Hitler-Koalition bis zum Potsdamer Abkommen von 1945, das eine ordnungsgemäße und humane Zwangsumsiedlung vorsah, die Flucht Deutscher in Ostdeutschland und Osteuropa 1944/1945 und die Umsiedlung zwischen 1946 und 1950 (S. 492ff., 532ff., 464ff.). In der Sowjetunion erfolgten ethnische Deportationen (auch in Arbeitslager) u. a. von Polen, aus dem Baltikum, von Russlanddeutschen sowie von Krimtataren und Tschetschenier. Im VII. Abschnitt werden die „Wechselwirkungen“ ethnischer „Säuberungen“ in Indien/Pakistan (1947/1948) und in Israel/Palästina (1947/1948) untersucht (S. 579f. Hinweise ua. auf Zwangsumsiedlungen in Malaya, Algerien, Kenia, Vietnam, Südvietnam und Südafrika). Der Schlussteil (S. 423-446) fasst in „Zwölf Bemerkungen zu den ethnischen ,Säuberungen‘ in unserer Moderne“ die Ergebnisse der Untersuchungen auch im Hinblick auf ihre aktuelle Bedeutung zusammen. Hervorzuheben sind die Abschnitte über „Anhaltende Aktualität“, über die „diametralen Bewertungen“ (insbesondere in den völkerrechtlichen Verträgen), über „moderne Täter, aber nicht nur Diktatoren“, über die Verschränkung von Ethnokonflikten und Sozialkonflikten, über die „Internationalisierung und Verrechtlichung“, über „Opfer und Täter – und mögliche Rollenwechsel“ sowie über „ambivalente ,Erfolgs‘-Bilanzen“.

 

Das Werk wird abgeschlossen mit einem Personenregister; weitere Register wären im Hinblick auf den handbuchartigen Charakter des Werkes hilfreich gewesen. Das weitgehend narrativ angelegte Werk vermittelt eine hohe Anschaulichkeit der Darstellung, die durch eingefügte kürzere Passagen aus zeitgenössischen Quellen ergänzt wird. Für einige, zum Teil recht umfangreiche Unterabschnitte der jeweiligen Hauptteile wäre eine etwas straffere Darstellung gewünscht gewesen, zumal die Abschnittsüberschriften nicht immer detailliert über den jeweiligen Inhalt unterrichten. Letztlich wäre auch eine chronologische Übersicht über die wichtigsten ethnischen „Säuberungen“ hilfreich gewesen mit Hinweisen auf die ungefähren Opferzahlen. Das Werk beruht außer auf der deutschen Literatur zur ethnischen „Säuberung“ vor allem auf der reichhaltigen englischsprachigen Literatur (im Literaturverzeichnis fehlen bei Übersetzungen der Originaltitel und dessen Erscheinungsjahr). Ein Desiderat der Forschung bleibt weiterhin eine detaillierte Heranziehung der russischsprachigen und vielleicht auch der spanischsprachigen Literatur. Insgesamt liegt mit dem Werk Schwartzs eine umfassende Darstellung des modernen Genozids und der ethnischen „Säuberungen“ vor, die auch für den Völkerrechtler und den Völkerrechtshistoriker von großer Wichtigkeit ist.

 

Kiel

Werner Schubert