Sachsen und der Nationalsozialismus, hg. v. Heydemann, Günther/Schulte, Jan Erik/Weil, Francesca (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts 53). V&R Academic, Göttingen 2014. 421 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Obwohl zur Geschichte des Nationalsozialismus in Sachsen bereits zahlreiche und vielfältige Untersuchungen vorliegen (vgl. S. 12 Fn. 20), sind Detailstudien über diese Thematik weiterhin erwünscht, zumal Sachsen als eines der wichtigsten regionalen Zentren des Nationalsozialismus zu gelten hat. Die Aufsatzsammlung knüpft „an die differenzierten und differenzierenden neueren Forschungsansätze zur Erforschung der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus an und untersucht, basierend auf den Strukturen politischer Herrschaft, die soziale Praxis von Akteuren, die auf der mittleren und unteren Ebene des Herrschaftssystems sowie im regionalen und lokalen Zusammenhang agierten“ (S. 16). Nach zwei einleitenden Abhandlungen über den Forschungsstand und die Forschungsperspektiven geht es im ersten Teil des Werks um „Herrschaft und Unterdrückung“ (S. 41ff.). Auch für den Rechtshistoriker von Interesse ist die Abhandlung von Arnim Nolzen über die „Sächsische NSDAP nach 1933. Sozialstrukturen und soziale Praktiken“ (S. 43ff.). Ihr ist zu entnehmen, dass am 1. 1. 1935 9,4% der NSDAP-Mitglieder aus Sachsen kamen (für den NS-Juristenbund waren es 10,2%). Im Abschnitt über „Teilhabe und Täterschaft“ (S. 129ff.) referiert Wolfgang Bialas am „Beispiel Arnold Gehlens“ über den „philosophischen Nationalsozialismus an der Leipziger Universität“ (S. 147ff.). Ihre Vertreter wollten die „nationalsozialistische Bewegung nutzen, um der Bestimmung der Deutschen als einer philosophischen Nation in weltgeschichtlicher Mission eine politische Bewegungs- und Existenzform zu geben“; in diesem Zusammenhang hätten sie „heilsgeschichtliche Phantasien einer philosophischen Politik oder philosophischen Religion“ entwickelt (S. 162). Von Interesse wäre es in diesem Zusammenhang zu untersuchen, wie weit dies auch für Teile der Rechtswissenschaft zutrifft.

 

Zwei weitere Beiträge befassen sich mit dem in die Euthanasie verwickelten Personal der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenschein (S. 185ff., 179ff.). Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit Abhandlungen über die Thematik „Anpassung und Abgrenzung“ (S. 213ff.) und über „Eigensinn“ (S. 303ff.). Rechtshistorisch relevante Beiträge bringt der Schlussteil des Bandes: „Kontinuität und Brüche“ (S. 349ff.). Carina Baganz befasst sich mit den Hohenstein-Prozessen (1935), mit der strafrechtlichen Verfolgung und Verurteilung des Wachpersonals 1945-1949 nach der Kontrollratsdirektive 38 vom 12. 10. 1946 und nach dem Gesetz vom 10. 12. 1946 (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und mit der vorzeitigen Haftentlassung von Verurteilten, die sich insbesondere zur Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit verpflichteten (S. 335ff., 359ff.). Manfred Seifert/Lars Polten gehen den divergierenden entschädigungsrechtlichen Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland hinsichtlich der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten (S. 365ff.) nach. Der Beitrag Mike Schmeitzners handelt von der strafrechtlichen Verfolgung des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann und dessen Verurteilung in einem Moskauer Geheimprozess durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR im Januar 1947 (S. 380ff., 390ff.; hierzu bereits Schmeitzner, Der Fall Mutschmann, Sachsens Gauleiter vor Stalins Tribunal, 2. Aufl., Beucha 2011). Insgesamt weisen die Beiträge von Seifert/Polten und von Schmeitzner auf die Verfolgung von NS-Straftaten in der sowjetischen Besatzungszone und durch sowjetische Militärtribunale hin, ein Quellenkomplex, dessen spezifische rechtshistorische Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen ist. Schon aus diesem Grunde verdienen die zuletzt genannten Beiträge die Beachtung des Rechtshistorikers.

 

Kiel

Werner Schubert