Rüthers, Bernd, Die unbegrenzte Auslegung. Zum Wandel der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus, 7. Auflage. Mohr (Siebeck), Tübingen 2012. XXII, 553 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Habilitationsschriften sind an deutschen Universitäten seit dem 19. Jahrhundert grundsätzlich die Nachweise wissenschaftlicher Spitzenleistungen der über Elternhaus, Schule, Abitur, Studium und Promotion allmählich aus der Gesamtbevölkerung ausgewählten Besten, die ihr besonderes Wissen und Können durch vertiefte Betrachtung eines Einzelgegenstands unter Beweis stellen. Wegen der dabei notwendigen Spezifizierung erwecken sie in der Regel nur das Interesse eines begrenzten Kreises von meist ebenfalls bereits habilitierten Sachkennern. Deswegen ist eine siebente Auflage einer Habilitationsschrift eine vorzügliche Auszeichnung durch die Öffentlichkeit, wie sie meines Wissens in der Rechtswissenschaft  nur sehr wenigen Forschern wie etwa Friedrich Carl von Savigny oder Claus Roxin zu Teil geworden ist, zu deren Höhe nunmehr auch der in Dortmund 1930 als Sohn eines Werkmeisters geborene, nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft an der Universität Münster 1958 bei Rolf Dietz auf Grund einer Dissertation über Streik und Verfassung promovierte, 1967 bei Hans Brox habilitierte, seit Oktober 1967 zunächst als Lehrstuhlvertreter in Berlin tätige, 1968 als Nachfolger Ernst E. Hirschs nach Berlin berufene und seit1971 in Konstanz unermüdlich wirkende Verfasser erfahren hat, dem überdurchschnittlich erfolgreiche Lehrbücher des Arbeitsrechts, des Allgemeinen Teils und der Rechtstheorie zu verdanken sind.

 

Die siebte Auflage der Habilitationsschrift enthält nach dem kurzen Vorwort den unveränderten Inhalt der ersten Auflage, wobei der Verfasser selbst die fortdauernde Nachfrage von Studierenden nach dem Buch und ihr lebhaftes Echo auf seine Lektüre auf die unverminderte Aktualität des Themas und den in den letzten Jahren entstandenen Diskurs über Methodenfragen in der juristischen Literatur und in der Rechtsprechung der obersten Gerichte  zurückführt, in denen freilich nach dem Urteil des Verfassers seltsamer Weise die Erfahrungen der Auslegungsakrobatik in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts immer noch ungenügend und zögerlich berücksichtigt werden. Einige verspätet erschienene literarische Kommentare zu seiner Habilitationsschrift gaben im erweiterten und aktualisierten Nachwort Anlass zu Hinweisen auf seine Entstehungsgeschichte und vor allem seine andauernde Wirkungsgeschichte. Sie erklären vielleicht auch den Umstand, dass diese zeitrechtsgeschichtliche Untersuchung eines Zivilrechtlers trotz mehrerer Anläufe bisher meines Wissens in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte keine ausreichende Würdigung in der Form einer Rezension gefunden hat, die allerdings an dieser Stelle auch nicht wirklich nachgeholt werden kann.

 

Bernd Rüthers wurde nach der Dissertation und der zweiten juristischen Staatsprüfung zunächst wissenschaftlicher Assistent an der Sozialakademie seiner Heimatstadt, wechselte aber 1961 als Direktionsassistent für Personalwesen zur Daimler-Benz AG. Im Herbst 1963 folgte er einer Einladung seiner akademischen Lehrer und Mentoren Hans Brox und Harry Westermann, sich in Münster für Zivilrecht zu habilitieren. Das geplante Thema, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bereits mit einem Habilitationsstipendium gefördert wurde, brach ihm allerdings wegen einer parallelen Neuerscheinung plötzlich weg, weshalb Hans Brox wegen der bereits erfolgten Auszahlung des ersten Monatsstipendiums entschied: Sie suchen innerhalb der nächsten drei Wochen ein neues Thema und der Deutschen Forschungsgemeinschaft melden wir nichts, sonst wird die Auszahlung des Stipendiums gestoppt und ein neues, langes Antragsverfahren fällig.

 

Unter dem dadurch aufgebauten Zeitdruck brachte der in Münster bestehende, lebendige Diskussionskreis unter den Assistenten den Habilitationswerber auf die Idee, eine Arbeit über die Entwicklung des Zivilrechts im Nationalsozialismus zu versuchen. Hans Brox nahm zu diesem Plan gegenüber dem ihm aus der Referendarzeit bekannten Habilitanden mit den Worten Stellung „Herr Rüthers, Sie spinnen. Die leben doch alle noch. Von Ihnen nimmt, wenn Sie das schreiben, kein Hund ein Stück Brot. An Rufe, wenn Sie damit habilitiert werden, ist nicht zu denken“, verwies ihn aber auf eine weitere Beratung durch Harry Westermann. Dieser hatte zwar dieselben Bedenken, betonte die selbst zu tragenden Risiken, sagte aber auch seine Unterstützung zu, obwohl die Meinungen in der Fakultät nicht vorhersehbar seien.

 

Das Interesse an dem Thema war für den Bearbeiter auch biographisch bestimmt. Zum einen hatte er außer der religiösen Familientradition als Achtjähriger im Hause des wohlhabenden jüdischen Kaufmanns Louis Sternberg in Dortmund wohnend als Augenzeuge und Ohrenzeuge erlebt, wie dieser am 9. November 1938 mit seiner Familie, darunter der gleichaltrigen Spielgefährtin Ingrid Sternberg, von einer Horde angetrunkener SA-Männer aus dem Hause geprügelt und die Wohnung verwüstet wurde. Zum anderen ergab sich aus der späteren Hausarbeit der ersten juristischen Staatsprüfung und einer rechtshistorischen Quellenexegese die Erkenntnis, dass sich bei einer Zeitdifferenz von beispielsweise 644 Jahren, bedingt durch den Wandel des historischen Kontexts, zwei grundlegend verschiedene, ja entgegengesetzte Norminhalte desselben Textes herleiten ließen, wofür die Rechtsentwicklung in der nationalsozialistisch beherrschten Zeit neues, die Erwartung dann auch nicht enttäuschendes Anschauungsmaterial versprach.

 

Im Oktober 1966 konnte das Ergebnis der Forschungen unter dem Titel Die Entwicklung der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus bei der Fakultät eingereicht werden und fand über die Gutachter Brox und Westermann hinaus das Interesse etwa von Rudolf Gmür, Dieter Nörr, Hans Kiefner, Hans Julius Wolff, Friedrich Klein und Helmut Schelsky. Wolff lehnte die von den Gutachtern empfohlene Anerkennung als Habilitationsleistung ab, ohne dass klare Gründe dafür erkennbar sind. Nach der Erklärung Helmut Schelskys, dass es an der Zeit sei, die nationalsozialistisch geprägte Epoche der Wissenschaftsgeschichte nüchtern und ungeschminkt aufzuarbeiten und zu akzeptieren, und dass bei Nichtanerkennung der Arbeit als Habilitationsleistung die Fakultät nicht länger seine Fakultät sei, zog Wolff sein negatives Votum zurück.

 

Wenig später erhielt der Verfasser von Hans Georg Siebeck in Tübingen eine Zusage eines seriösen Verlags für eine in Leinen gebundene, „seriös“ wirkende Ausgabe des in den Augen vieler „unseriösen“ Themas. Da nach einem Ratschlag Helmut Schelskys für den Erfolg eines Buches der Titel mindestens ebenso wichtig ist wie der Inhalt, wurde nach einem attraktiveren Titel gesucht. In der Rückschau des Verfassers war auch dieser Rat buchstäblich Gold wert.

 

Die erste Auflage war trotz des Preises von 98 DM 1972 vergriffen. Der Verleger war an einer vom Verfasser angestrebten Taschenbuchausgabe für Studierende nicht interessiert, gab aber per Handschlag die Verlagsrechte hierfür frei, so dass 1973 im Gehlen-Verlag bzw. Athenäum-Fischer-Verlag eine Taschenbuchausgebe für 14 DM erscheinen konnte, die zwischen 1987 und 1997 nach der Liquidation des Verlags bei C. F. Müller in 3., 4. und 5. Auflage fortgeführt werden konnte. Nach der Übernahme des neuen Verlags durch einen ausländischen, an einer Neuauflage uninteressierten Konzerns kehrte das Werk in seinen Ursprungsverlag zurück.

 

Gegliedert ist das mutige, grundlegende Fragen an einem bedeutsamen Gegenstand exemplarisch ansprechende Werk in 20 Paragraphen, die zu vier Kapiteln zusammengefasst sind, welche die richterliche Korrektur des Vertrags als Folge veränderter wirtschaftlicher Umstände, die richterliche Korrektur des Gesetzes als Folge veränderter wirtschaftlicher Umstände (die freie Aufwertung), die richterliche Korrektur der Privatrechtsordnung im Nationalsozialismus (mit namentlich besonderer Berücksichtigung von Erich Kaufmann, Gustav Radbruch, Carl Schmitt, - Hitler, Göring, Göbbels, Ley, Himmler -, Stoll, Heck, Savigny, Stahl, Hauriou, Erich Kaufmann und Heck) und die politische Funktion der Rechtsanwendung betreffen. Bewusste, vielfach politisch motivierte Einlegung durch einzelne Menschen statt an einer Wertordnung im und hinter dem Recht orientierter Auslegung stehen im Mittelpunkt. Durch seine zielbewusste Suche nach Gerechtigkeit im Rahmen der jüngeren deutschen Rechtsgeschichte hat sich Bernd Rüthers auch in diesem Bereich große bleibende Verdienste erworben, die seine erfolgreiche „unbegrenzte Auslegung“ jedermann exemplarisch vor Augen führt.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler