Rüthers, Bernd, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat. Verfassung und Methoden. Ein Essay. Mohr (Siebeck), Tübingen 2014. IX, 175 S.  Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Vermutlich tatsächlich oder jedenfalls rechtstheoretisch ist irgendwo irgendwann der erste Rechtssatz der Menschen auf der Erde entstanden, ohne dass bestimmte Einzelheiten dazu bekannt sind. Auf dieser Grundlage sind im Laufe der Zeit ständig weitere Rechtssätze hinzugekommen, wobei zumindest die Meinungsführer sich allmählich darüber einig wurden, auf welche Weise ein neuer Rechtssatz gebildet werden kann oder darf. Dies ist jedenfalls für das immer seltenere Gewohnheitsrecht aller und das von zuständigen, meist auf Zeit gewählten Organen der Allgemeinheit durch mehrheitlichen Beschluss gesetzte Recht einigermaßen unstreitig.

 

Fraglich ist demgegenüber, ob und wann Richter ein über den einzelnen, ihrer Entscheidungsgewalt zugeordneten Einzelfall hinaus Recht schaffen dürfen. Nach der an den Beginn seines kurzen Vorworts gesetzten Erkenntnis des auch als einer der besten Kenner der Rechtstheorie ausgewiesenen Verfassers hat sich die Bundesrepublik Deutschland vom demokratischen Rechtsstaat zum (undemokratischen) „Richterstaat“ gewandelt, indem große Bereiche aller Teilrechtsgebiete nicht mehr überwiegend durch Gesetze, sondern durch „Richterrecht“ geregelt sind, was freilich in anderen wichtigen Staaten der Welt als selbverständlich betrachtet wird. In diesen Bereich gilt die weithin unbestrittene Tatsache: Recht ist, was die zuständigen obersten Gerichtsinstanzen rechtskräftig für geltendes Recht erklären – bis zur nächsten Änderung dieser Rechtsprechung -, obwohl nach der geltenden Verfassung Recht ist oder sein soll, was die Parlamente als die zuständigen (obersten) Rechtssetzungsorgane wirksam als geltendes Recht festsetzen – bis zur nächsten Änderung dieser Festsetzung.

 

Der Verfasser gliedert seine diesbezüglichen kritischen wichtigen Überlegungen in insgesamt 16 Abschnitte, die vom Grundgesetz auf seinem Weg vom Provisorium zum Jahrhundertwerk ausgehen. Danach betrachtet er Verfassungswechsel als Rechts- und Juristenkrisen, Erfahrungen aus der historischen Rückschau, die Verfassung als oberste nationale Rechtsquelle und Prägefaktor der Methodenlehre, den juristischen Positivismus als behauptete Ursache von Unrecht, methodische Vorgaben des Grundgesetzes für die Rechtsanwendung, die Bedeutung des Richterrechts, die Gesetzesbindung der Gerichte, die Trendwende im Bundesverfassungsgericht, Grundsätze für die Auslegung der Verfassung, den Rollenwechsel des Bundesverfassungsgerichts und das Problem der Richterwahlen, die den modernen technischen Gegebenheiten und Möglichkeiten folgende wachsende Veränderungsgeschwindigkeit moderner Gesellschaften als Rechtsproblem und Methodenproblem, die Regelungslücke als möglichen Normalfall des Verfassungsrechts, die mögliche Vielfalt oder Einheit der Methoden der Rechtsanwendung und die Frage der Verfassungsverletzung durch fehlerhafte Rechtsanwendung. Im Ergebnis sieht er am Ende seiner kritischen, anregenden 17 Thesen in Übereinstimmung mit einer Formulierung Franz Edler von Zeillers in seinen 1811 veröffentlichten (einfachen und klaren) Grundsätzen zur Gesetzesauslegung und Rechtsanwendung den vom Gesetz sich lösenden Gesetzesausleger – auch mit Blick auf das von der Verfassung bzw. von dem auf ihrer Grundlage erlassenen Gesetz mit besonderer Zuständigkeit ausgestatteten Bundesverfassungsgericht - als Verfälscher der Gesetze an, wenn der gewollte Rechtsstaat (Gesetzesstaat) ohne offene Verfassungsänderung allmählich tatsächlich mehr und mehr in einen in der Verfassung so nicht vorgesehenen Richterstaat umgeformt wird, dessen unvermeidbares Richterrecht als solches deklariert und verantwortet werden muss oder müsste.

 

Innsbruck                                                       Gerhard Köbler