Roos, Daniel, Julius Streicher und „Der Stürmer“ 1923-1945. Schöningh, Paderborn 2014. 535 S., 62 Abb., zugleich Phil. Diss. Würzburg 2013. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Als das Ende des Dritten Reiches auch für dessen „Führer“ Adolf Hitler zur unausweichlichen Gewissheit wurde, wandte er sich demonstrativ vom deutschen Volk ab, da es sich als das schwächere erwiesen, den Untergang somit verdient und dem von der NS-Rassenideologie stets systematisch diffamierten, nun stärkeren Ostvolk die Zukunft zu überlassen habe. Eine ähnlich absurde Volte soll, glaubt man den Ausführungen des Gerichtspsychiaters Gilbert, auch der aus Schwaben stammende gelernte Volksschullehrer, einstige „Frankenführer“, Herausgeber des „Stürmer“ und langjährige „Judenhetzer Nummer1“, Julius Streicher (1885 – 1946), in seiner Nürnberger Gefängniszelle vollzogen haben, indem er - aus welchen Motiven auch immer - ausführte, „die dauernden Aufstände in Palästina hätten ihn [Streicher] davon überzeugt, daß die Juden reichlich Kampfgeist und Mut hätten, und er sei jetzt von Bewunderung für sie erfüllt; bei Gott! Er sei jetzt tatsächlich bereit, für sie in ihren eigenen Reihen zu kämpfen! […] Ich mache keinen Spaß. Ich gebe es Ihnen schriftlich“ (S. 414).

 

Parallelen im Werdegang Hitlers wie Streichers lässt - trotz des fundamental unterschiedlichen Grades in der faktischen historischen Bedeutung - die von Daniel Roos als „Doppelbiografie“ (S. 15) der Zeitschrift und ihres geistigen Vaters Streicher angelegte, mit einer besonderen inhaltlichen und formalen Sorgfalt erarbeitete Dissertation immer wieder erkennen, ohne dass der Verfasser jene besonders thematisiert. Beide etwa waren keine „geborenen Antisemiten“, sondern entstammten einem katholischen Milieu und entwickelten nachweisbar erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs ihre prononcierte Judenfeindschaft. Schließlich profitierte Streicher, der die Grundlagen und Anlagen für die Wahrnehmung verantwortlicher Ämter auf Reichsebene offensichtlich vermissen ließ und bei einem Intelligenztest im Zuge des Nürnberger Prozesses mit altersbereinigt 106 Punkten, tatsächlich aber 15 bis 20 Punkte niedriger, „das Schlusslicht aller getesteten Männer (bildete)“ und „als einziger der angeklagten Naziführer nicht überdurchschnittlich intelligent (war)“ (S. 478), während der gesamten Zeit des Aufstiegs und der Herrschaft der NS-Bewegung von der Protektion Hitlers, der Streicher seinen persönlichen mutigen Einsatz beim Putschversuch von 1923 und seine nie in Frage stehende Loyalität so hoch anrechnete, dass er ihn auch in Anbetracht immer lauter werdender Kritik an dessen Herrschaftsmethoden nicht in Ungnade fallen ließ. So wurde der „Frankenführer“ nach diversen Eskapaden und Unregelmäßigkeiten bei sogenannten Arisierungen unter dem fortwährenden Druck seiner lokalen Nürnberger Kontrahenten, des Polizeipräsidenten Benno Martin und des Oberbürgermeisters Willy Liebel, sowie unter Einschaltung Görings und des Obersten Parteigerichts 1940 zwar schließlich in seiner Funktion als Gauleiter untragbar und beurlaubt, aber wohl auf Anordnung Hitlers niemals offiziell seines Amtes enthoben. Auch den „Stürmer“ „durfte Streicher weiterhin besitzen und unverändert erscheinen lassen, offenbar ebenfalls auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers“ (S. 357).

 

Der „Stürmer“, von Julius Streicher im April 1923 zunächst als Flugblatt zur Verteidigung gegen innerparteiliche Gegner aus der Taufe gehoben und schließlich als „Nürnberger/Deutsches Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit“ bis ins Frühjahr 1945 fortgeführt, steht bis heute im allgemeinen Bewusstsein paradigmatisch für eine fanatische, pornographisch akzentuierte antijüdische Hetze auf unterstem Sprachniveau. Der Verfasser plädiert dafür, diese Konstitution nicht als Zufallsprodukt zu werten, im Gegenteil: „Die Schlichtheit in der Sprache und die Brutalität im Ausdruck, so die These, waren eine spezifische Methode Streichers und seiner Mitarbeiter, ein bewusst eingesetztes stilistisches Mittel, um die Massen zu erreichen und eine breite Leserschaft auf einer emotionalen Ebene anzusprechen. Nur mit dem Verständnis für einen zielgerichteten Einsatz derartiger Methoden lässt es sich erklären, dass sich der ‚Stürmer‘ einen derart großen Leserkreis erschließen konnte“, arbeitete er doch mit „effektiven und subtilen Mitteln, um seinen grenzenlosen Hass zu verbreiten“ (S. 504). Im Detail ausgebreitete, sexuell-sadistisch akzentuierte Schilderungen von Vergewaltigung, Rassenschändung und Ritualmord durch Juden wurden zu typischen Leitthemen des „Stürmer“; neben einer riesigen Schlagzeile und dem stets wiederkehrenden, auf den kleindeutschen Historiker Heinrich von Treitschke zurückgehenden Motto der Titelseite „Die Juden sind unser Unglück“ prägten ab 1925 vor allem die den Typus des „Stürmerjuden“ kreierenden Karikaturen Philipp Rupprechts („Fips“) dessen Erscheinungsbild. Daniel Roos beschäftigt sich eingehend mit der Form, dem Inhalt und der Entwicklung des Blattes, charakterisiert dessen Mitarbeiter - beispielsweise die Schriftleiter Karl Holz, Theo Benesch und Ernst Hiemer - und exemplarisch auch die Opfer der Hetze, die sich in der Zeit der Weimarer Republik häufig gerichtlich zur Wehr setzten. Obwohl sowohl Julius Streicher als auch seine Mitarbeiter dabei auch Haftstrafen ausfassten, kritisiert der Verfasser die Tätigkeit der Behörden und Gerichte, denn: „Viel zu oft ließ man den ‚Stürmer‘ viel zu lange gewähren. Wenn es zu Prozessen kam, konnten diese von Streicher und seinen Anhängern als Propagandaforum genutzt werden, und die Häufigkeit der Verfahren zeigt, dass die verhängten Strafen wirkungslos verpufften. […] Der Sinn von Strafmaßnahmen, eine Spezial- und Generalprävention und eine Talion im juristischen Sinne, konnte ebenso wenig erfüllt werden, wie der Schutz anderer ermöglicht wurde. Justitia war im Hinblick auf den ‚Stürmer‘ zwar nicht dauerhaft auf dem rechten Auge blind, allerdings doch recht kurzsichtig. Dem demokratischen Rechtssystem, das Pressefreiheit und Meinungsfreiheit garantierte, gelang es bis 1933 nicht, gegen ein offen republikfeindliches und vom Hass auf eine geschützte, religiöse Gemeinschaft im Reich besessenes Blatt entscheidend vorzugehen. Teilweise fehlte es an den gesetzlichen Möglichkeiten, zum Teil schien aber auch der Wille nicht vorhanden zu sein, sich auf der Seite einer ohnehin Ressentiments ausgesetzten jüdischen Minderheit gegen die immer stärker werdende nationalsozialistische ‚Bewegung‘ zu stellen“ (S. 222). Damit „(entfalteten sich) am Beispiel Streichers und des ‚Stürmer‘ brennspiegelartig die Abwehrschwäche der ‚Weimarer Republik‘ und die fatalen Schattenseiten ihres relativistischen Demokratiebegriffs“ (S. 503).

 

Obwohl deren Funktionen usurpierend, war Streichers Blatt niemals ein parteiamtliches Organ, sondern stets sein Privatunternehmen; es gebe daher auch Anhaltspunkte für die These, dass der „Stürmer“ nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 „das zum Ausdruck brachte, was nach der Übernahme politischer Verantwortung von offizieller Seite nicht mehr gesagt und geschrieben werden konnte“ (S. 505). Streichers von einem fanatischen Sendungsbewusstsein getriebener Antisemitismus war maßgeblich beeinflusst von Artur Dinters 1917 erschienenem Bestseller-Roman „Die Sünde wider das Blut“, der das sogenannte „kontagionistische Theorem der Telegonie“ vertrat: „Ein einziger Sexualkontakt mit einem Juden verseuche die Gebärfähigkeit der ‚arischen‘ Frau auf immer, selbst wenn ihre Kinder später von einem ‚arischen‘ Vater gezeugt würden. Eine derartige ‚Schändung‘ bzw. Vergiftung des deutschen Blutes durch eine Art jüdische Infektion […] folge dem ‚teuflischen Ziel‘ der Juden, nämlich einer ‚Rassenvergiftung‘“ (S. 266f.). Als Konsequenz aus dieser biologistisch inspirierten Überzeugung Streichers heraus forderte der „Stürmer“ als „Schrittmacher der nationalsozialistischen Rassenpolitik“ (S. 504) unablässig ein gesetzliches Vorgehen zur Separation der jüdischen Bevölkerung, wie es dann in den Nürnberger Rassengesetzen 1935 auch zur Umsetzung gelangte. Obwohl Streicher, der übrigens ohne einschlägige juristische Qualifikation kurz zuvor zum Mitglied der „Akademie für deutsches Recht“ ernannt worden war (vgl. S. 298), mit deren Ausarbeitung nicht befasst war, befand sich der ‚Stürmer‘ zugleich mit diesem Akt der Gesetzgebung „auf dem Zenit: Die Auflagenzahlen hatten ihren Gipfelpunkt erreicht, das Blatt erfuhr eine internationale Verbreitung und war zur bekanntesten Wochenzeitung Deutschlands avanciert […] Die gebetsmühlenartig vorgetragenen Wünsche (waren) erfüllt und die Entwicklung vom Instrument Streichers in seinen persönlichen politischen Auseinandersetzungen auf lokaler Ebene hin zum reichs- und europaweiten Sprachrohr der radikalen Antisemiten kann als abgeschlossen betrachtet werden“ (S. 281f.).

 

Vom Verfasser leider unberücksichtigt, ja völlig unerwähnt bleibt, dass sich im selben Jahr mit der SS-Wochenzeitung „Das Schwarze Korps“ [vgl. dazu: Mario Zeck, Das Schwarze Korps. Geschichte und Gestalt des Organs der Reichsführung SS, Tübingen 2002, sowie die Besprechung des Rezensenten in: Publizistik 48 (2003), S. 103] in der NS-Presselandschaft auf Reichsebene ein mächtiger Konkurrent des „Stürmer“ zu etablieren begann. Obwohl der Antisemitismus dort nur eines unter mehreren Themen - wie dem Kampf gegen die Kirchen, die Justiz und die Bürokratie - blieb, verschaffte die Radikalität der Darstellung und die journalistische Qualität dem um ein gewisses intellektuelles Niveau bemühten Blatt Gunter d’Alquens einen rasanten Aufstieg und baldigen wirtschaftlichen Erfolg. Bemerkenswert ist nun, dass die SS-Zeitungsmacher offenbar vom „Stürmer“ einiges Nützliche übernahmen. Wenn Daniel Roos ausführt, der „Stürmer“ sei „eine Frühform moderner Kommunikationstechnik“ gewesen, „indem die Grenzen zwischen Leser und Mitarbeiter verschwammen und das Gefühl einer ‚Gemeinschaft der Wissenden‘ geschaffen wurde“, sodass zugleich „jene, die außerhalb dieser Gruppierung standen, sich der ‚Stürmer-Gemeinschaft‘ als unerbittlichem Gegner gegenüber(sahen), was sich in zahlreichen Denunziationen im Blatt niederschlug“ (S. 504), so traf dies im selben Ausmaß bald auch auf Macher und Konsumenten des „Schwarzen Korps“ zu. Wäschekörbeweise sollen Leserzuschriften das sich als „Reichsbeschwerdestelle“ gerierende SS-Blatt erreicht haben, die zusammen mit Material des Sicherheitsdienstes der SS (SD) als Basis für entsprechende Artikel herangezogen wurden. Wie der „Stürmer“ wurde zudem auch das „Schwarze Korps“ öffentlich in eigenen Schaukästen ausgehängt, und wie dessen obszöner Antisemitismus erregten die Schilderungen der SS-Zeitung über geistliche Sittlichkeitsvergehen ebenso Aufmerksamkeit wie erheblichen Anstoß. Mit den Erkenntnissen der vorliegenden Dissertation rücken somit auch diese bislang im Dunkeln gebliebenen, pressegeschichtlich bedeutsamen Parallelitäten ins Blickfeld. Darüber hinaus wird zu fragen sein, ob ein und welcher Zusammenhang zwischen dem Bedeutungsverlust des „Stürmer“ und dem Aufstieg des „Schwarzen Korps“ nachgewiesen werden kann.

 

Durchaus kritisch stellt der Verfasser die symbolbezogene Fundierung des Todesurteils des Nürnberger Militärtribunals gegen Julius Streicher zur Diskussion. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie die Aufreizung zum Rassenhass im Verhältnis zur real vollzogenen Teilnahme am Holocaust strafrechtlich angemessen zu würdigen sei. Denn „Streicher wurde […] in erster Linie für das angeklagt, was im „Stürmer“ und den Veröffentlichungen des Verlags geschrieben worden war, seine Taten standen im Hintergrund“ (S. 487). Zwar ließen „Streichers Hasstiraden, sein bisweilen abstoßender Charakter, seine Besessenheit von der ‚Judenfrage‘ und die widerliche Art der propagandistischen Darstellung ihn alles andere als unschuldig erscheinen“ und „in einer anderen Anklage, in anderer Zuständigkeit wäre er zweifellos zu verurteilen gewesen. Aber gehörte er mit den Angeklagten, die zentrale Ämter in Partei und Staat innehatten, nach Nürnberg, erlaubte die Rechtsgrundlage, auf der die Urteile gegen seine Mithäftlinge beruhten, ein Todesurteil? Gerade angesichts der Freiheitsstrafen gegen Heß oder Speer und auch des Freispruchs für den Propagandisten Fritzsche erscheint dies zumindest fraglich […]“. So wurde mit der Verurteilung Streichers „in erster Linie ein Zeichen gesetzt, man richtete das international bekannteste Symbol des nationalsozialistischen Rassenhasses und damit einen erkennbaren vermeintlichen Täter zu einem Zeitpunkt, als das Wissen um die Abläufe und die Verantwortlichkeiten der nationalsozialistischen Vernichtungsaktionen nur teilweise vorhanden war. […] Letztendlich wurde Streicher nicht für seine tatsächliche Beteiligung an den Massenmorden verurteilt, sondern für das, was er geschrieben hatte. An den Galgen brachte ihn sein ‚Stürmer‘“. Der amerikanische Hauptankläger Telford Taylor habe in diesem Sinne im Nachhinein sein Unbehagen ventiliert und massiv die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen unangemessen erscheinende Art der Urteilsfindung kritisiert: „Die hastige und gedankenlose Behandlung der Klage gegen Streicher war kein Ruhmesblatt für den Gerichtshof. […] Die unbekümmerte Art und Weise, mit der die Mitglieder des Gerichtshofs ihn an den Galgen brachten, als ob sie einen Wurm zerträten, ist im Grunde unerträglich“ (S. 496ff.).

 

Erhebt man die zentrale Frage nach der konkreten Wirkung der Hasspropaganda Streichers, so gesteht der Verfasser ehrlich ein, dass „kein historiografisches Instrumentarium (existiert), um mögliche Veränderungen in den Einstellungen und Werthaltungen der Leser zuverlässig zu messen“, doch sei mit einiger Sicherheit davon auszugehen, „dass Streicher und seine Hetzschrift – u. a. auch durch die im ‚Stürmer-Verlag‘ erschienenen Kinderbücher [vgl. dazu die auch von Daniel Roos zitierte, zusammen mit einem Fachkollegen schon vor über zwei Jahrzehnten erstellte Studie des Rezensenten „Antisemitismus als Erziehungsinhalt. Ein Kinderbuch aus dem ‚Stürmer‘-Verlag: Entstehung – Rezeption – Wirkung“ in: Publizistik 36 (1991), S. 343 – 358] – die Vorstellung von Teilen der Bevölkerung ‚vom Juden‘ nachhaltig prägten“ (S. 505). Dem ist wohl zuzustimmen, entspricht doch eine derartige Interpretation am ehesten der allgemeinen Lebenserfahrung. Was zudem an vielen Biographien führender Nationalsozialisten und Täter immer wieder markant ins Auge fällt, ist deren offenkundige Unwilligkeit oder Unfähigkeit, ihre einmal gefassten ideologischen Überzeugungen kritisch zu hinterfragen und zu korrigieren. Auch Julius Streicher soll „von allem, was er sagte, voll überzeugt“ gewesen sein, weshalb ihn sein erster bedeutender Gegner, Oberbürgermeister Hermann Luppe, in der Rückschau als „ein(en) Volksverderber schlimmster Art mit dem Glauben, eine große Mission zu erfüllen“, bezeichnete (S. 506).

 

Kapfenberg                                                               Werner Augustinovic