Reitzenstein, Julien, Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im „Ahnenerbe“ der SS. Schöningh, Paderborn 2014. 415 S., 22 Abb. und graph. Darst. Besprochen von Ulrich-Dieter Oppitz.

 

Julien Reitzenstein aus Straßburg/Elsass, dem wir schon einen interessanten Einblick in Goebbels Liebesnest‘ und Ausführungen zum Apartmenthotel verdanken, legt nun eine Studie zu Wolfram Sievers und dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung im ‚Ahnenerbe‘ vor. Von einem Leipziger Verlag sind 2014 zwei weitere Arbeiten des Verfassers über das ‚Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung‘ und ‚Entwicklung und Produktion des Hämostyptikums Polygal in den Jahren 1943-1945‘ angezeigt. Verkaufsfördernd wurde der hier zu würdigende Titel in Anlehnung an ‚Himmlers Burg‘, ‚Himmlers Kinder‘ und ‚Himmlers Waffenforscher‘ gewählt. Die Verlagsmitteilung lobt die Arbeit ‚auf der Grundlage von Archivquellen aus aller Welt‘, die sich auf eine Filmrolle der National Archives (Washington), zwei Aktenbände des Holocaust Museums (Washington) und zwei Akten aus der Niels Bohr Library (College Park, Maryland) sowie auf Akten verschiedener deutscher Archive beziehen. Die Arbeit gliedert sich in 308 Seiten Text und 84 Seiten mit den 2350 Anmerkungen.

 

Die Studie ergänzt die verschiedenen Arbeiten, die bereits zum ‚Ahnenerbe‘ und zu seiner Verwicklung in die pseudo-medizinischen Brutalitäten in den Konzentrationslagern Dachau und Natzweiler veröffentlicht worden sind. Nach einer Einleitung zur Geschichte des ‚Ahnenerbe‘ folgt eine ausführliche und umfangreiche Darstellung zu dem Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung und seinen Abteilungen. Weitere Aspekte, wie die Finanzierung des Institutsbetriebes, die Unterbringung und Versorgung des Instituts, besonders unter den Bedingungen der Kriegsjahre 1943-1945, und schließlich ein Exkurs über das Verhältnis zwischen Sievers und Himmler bei Fragen der Wehrmedizin, sind detailverliebt dargestellt. Der Verfasser nutzt intensiv das Diensttagebuch von Sievers, das in der bisherigen Forschung, soweit ersichtlich, noch nicht ausgewertet worden ist. Ersichtlich hatte er auch zum Nachlass Sievers Zugang. Hier wäre es wünschenswert, wenn dieser Nachlass in ein öffentliches Archiv übernommen werden könnte. Der Gewinn der Arbeit ist darin zu sehen, dass neben den Abteilungen H und P, die bislang im Forschungsinteresse standen, auch die übrigen Abteilungen nach Personalbestand und Tätigkeitsfeldern beschrieben werden. Die personellen und institutionellen Verbindungen zwischen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Reichsforschungsrat und dem ‚Ahnenerbe‘ belegen, dass die im ‚Ahnenerbe‘ betriebenen Forschungen und Pseudo-Forschungen keineswegs Irrwege von Außenseitern waren, sondern in viel stärkerem Maße in die Anstrengungen der Forschung im Dritten Reich während der Kriegsjahre eingebettet waren, als dies den bisherigen Studien zu entnehmen war. Hierin liegt der eigentliche Gewinn der Arbeit. Der Verfasser stellt hierzu weitere Studien in Aussicht. Nur in Ansätzen sind Hinweise gebracht, an welcher Stelle und mit welchen Zielen die Beteiligten in den Jahren nach der Befreiung ihre Arbeiten fortgeführt haben. Bei dem Interesse, das Leo Alexander an den Dachauer Messergebnissen von Sigmund Rascher zeigte (S. 176), wäre es angebracht gewesen, die Studie Andreas Frewers und Claudia Wiesemanns (1999) zu ‚Medizinverbrechen vor Gericht‘ heranzuziehen, die bereits ausführlich die Übernahme der Messergebnisse in die Fachliteratur zwischen 1946 und 1988 belegten. Siegfried Ruff, zu dem Anm. 1067 'gest. verm. nach 1954' angibt, ist am 22. 4. 1989 in Bonn verstorben, wie der Bonner General-Anzeiger vermerkte. Georg August Weltz (Anm. 1047) ist 1963 verstorben. Wenn es dem Autor nicht möglich war, zu Oberstarzt v. Dieringhofen (S. 181 u. 412) Angaben zu finden, so lag dies daran, dass Prof. Dr. Heinz von Diringshofen (1900-1967) der Gesprächspartner Raschers war. Ebenso unklar bleibt es, warum zu den Wiener Ahnenerbemitarbeitern Michael Miller (1883-1968) und Jaroslav Pasternak (1892-1969) (S. 297, 414) keine Angaben gemacht sind. Der langjährige Adjutant des Sachsenhausener Lagers (S. 248, 415), Heinrich Wessel, geb. 1904, wurde am 6. 6. 1962 durch das Landgericht Verden zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt.

 

Angesichts der zahllosen Einzelinformationen, welche die Arbeit ausbreitet, wäre ein ergänzendes Sachregister überaus wünschenswert gewesen. Die Details, die der Autor als Aktenfunde präsentiert, mögen in Einzelzusammenhängen berichtenswert sein, sie verstellen jedoch nicht selten den Blick auf die wesentlichen Aussagen. Ein überaus pikantes Detail breitet der Autor über den ehemaligen Dienstsitz des ‚Ahnenerbes‘ in Berlin-Dahlem aus: Das Grundstück und benachbarte Grundstücke, wie etwa das der Dienstvilla des Bundespräsidenten, waren ehemals jüdischer Besitz. Zu wünschen wäre, dass etwaige Unklarheiten hierzu alsbald ausgeräumt würden. Bereits der böse Schein ist von Schaden.

 

Neu-Ulm                                                                                                       Ulrich-Dieter Oppitz