Pagenkopf, Martin, 150 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland. Boorberg, Stuttgart 2014. 332 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Zur Geschichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland fehlt bislang eine Gesamtdarstellung, so dass es zu begrüßen ist, dass sich Martin Pagenkopf (Richter am Bundesverwaltungsgericht a. D.) dieser Materie angenommen hat. Im Teil A behandelt Pagenkopf die Verwaltungsgerichtsbarkeit von 1863-1918 (S. 13ff.), ausgehend von der Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Baden durch ein Gesetz von 1863 (S. 15ff.). In der Folgezeit erhielten Bayern, Württemberg, Hessen-Darmstadt, Oldenburg und Sachsen unabhängige letztinstanzliche Verwaltungsgerichtshöfe. Große Bedeutung erlangten das preußische Gesetz vom 3.7.1875 über die Verfassung der Verwaltungsgerichte und das Verwaltungsgerichtsverfahren und das Berliner Oberverwaltungsgericht, dessen Entscheidungen wegweisend wurden (S. 46ff. zum Kreuzberg-Urteil, S. 48ff. zum „Weber“-Urteil von 1893, S. 256ff. Wiedergabe des Originalurteils, durch welches das Aufführungsverbot des Werkes von Gerhart Hauptmann: „Die Weber“ aufgehoben wurde). Für die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte galt, von Württemberg abgesehen (hier Generalklausel) das Enumerationsprinzip. Anfänge einer allerdings noch nicht voll unabhängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit des Reichs fanden sich u. a. im Bundesamt für Heimatwesen, im Patentamt und im Reichsversicherungsamt (ausführlich hierzu Wolfgang Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, Tübingen 1991, S. 45ff., 53ff.). In der Weimarer Zeit scheiterten die Versuche, ein Reichsverwaltungsgericht zu schaffen (S. 69ff.); Teile der Reichsverwaltungsgerichtsbarkeit übten aus der 1918 begründete Reichsfinanzhof in steuerrechtlichen Streitigkeiten, das Reichsversorgungsgericht und das Reichswirtschaftsgericht. Aus der Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts behandelt Pagenkopf u. a. das Borkum-Lied-Urteil, das Urteil im Potsdamer Flaggenstreit und den Streit über die Zulassung eines NSDAP-Plakats (S. 72ff.). Auch Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, des Verwaltungsgericht Hamburg und des badischen VHG werden referiert (S. 80ff.). In der NS-Zeit blieb die Verwaltungsgerichtsbarkeit bestehen, allerdings mit erheblichen Einschränkungen in der Zuständigkeit (S. 85ff.; Beispiele aus der verwaltungsgerichtlichen Judikatur in der NS-Zeit, S. 101ff., 107ff.). Durch einen Führererlass vom 28. 8. 1939 und eine Verordnung vom 6. 11. 1939 (Wiedergabe S. 310ff.) wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit praktisch, wenn auch nicht vollständig beseitigt (S. 97ff.). Das 1941 errichtete Reichsverwaltungsgericht wird nur knapp behandelt (S. 112f.; ausführlich bei W. Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, S. 452ff.).

 

Einen breiten Raum nehmen der Neuaufbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Westzonen und in der Frühzeit der Bundesrepublik ein (S. 115ff., S. 120ff. zur Schaffung des Bundesverwaltungsgerichts durch ein Gesetz vom 23. 9. 1952) und die bis 1952 in der sowjetischen Besatzungszone/DDR bestehenden Verwaltungsgerichte (S. 125ff.; zur teilweise „unliebsamen“ Rechtsprechung des OVG Jena S. 134ff.). Ausführlich geht Pagenkopf auf die erst in der dritten Legislaturperiode des Bundestags verabschiedete Verwaltungsgerichtsordnung vom 21. 1. 1960 ein, über deren Entstehung noch immer keine Monografie vorliegt. Von den zahlreichen Änderungen der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) sind hervorzuheben das Normenkontrollverfahren vor den Oberverwaltungsgerichten (insbesondere Überprüfung von Bauleitplänen), die Möglichkeit einer Einzelrichterentscheidung (zunächst nur für Asylsachen und seit 1996 allgemein), die Zulassungsberufung (1996), die fakultative Abschaffung des Vorverfahrens (Widerspruchsrechts) und die Übertragung der Sozialhilfesachen an die Sozialgerichte. Als nachteilig hat sich nach Pagenkopf die Zuweisung der Sozialgerichte – mit Ausnahme von Bayern – an die Justizministerien erwiesen. Gescheitert sind die ausführlich beschriebenen Versuche der Bundesregierungen, eine für alle Verwaltungsgerichte (Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichte) maßgebende Verwaltungsprozessordnung zu schaffen (S. 173-180). Im Schlussteil „Verlorene Reformen und Kritik“ (S. 173ff.) weist Pagenkopf u. a. auf die fehlende Verwaltungsgerichtserfahrung der Verwaltungsrichter, auf die „Gefahren der Lähmung der Verwaltung und die Entfesselung der dritten Gewalt“, die „überladenen Nichtzulassungsbeschlüsse“ des Bundesverwaltungsgerichts und den Ausbau der justizstaatlichen Reservate (S. 200ff.) hin. Das Werk wird abgeschlossen mit Kurzbiografien von neun „prägenden Gestalten in der Verwaltungsgerichtsbarkeit“ (S. 205ff.) und der Wiedergabe von faksimilierten Dokumenten zu „150 Jahren Verwaltungsgerichtsbarkeit“ (S. 219-331). Zu bedauern ist, dass ein Verzeichnis der benutzten Literatur fehlt, die jeweils nur im laufenden Text nachgewiesen wird. Insgesamt hätte die Darstellung an Anschaulichkeit noch gewonnen, wenn Pagenkopf die Entwicklungen ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts (S. 148ff., 173ff.) mitunter etwas detaillierter beschrieben hätte. Das Werk verdeutlicht, dass der Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit insbesondere in den fast 70 Jahren der Nachkriegszeit die volle Aufmerksamkeit der Rechtshistoriker verdient. Insgesamt ermöglicht das Werk Pagenkopfs einen guten Überblick über die Geschichte der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, für die weitere übergreifende Darstellungen, wie sie beispielsweise Kohl für das „Reichsverwaltungsgericht“ gebracht hat, erwünscht wären.

 

Kiel

Werner Schubert